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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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sie ein kurioses Talent: Sie verfasste nun Gedichte für Grußkarten und feierliche Anlässe. Was an und für sich ein Witz war, sagte mein Onkel, denn sie musste häufig Verse über Liebesbeziehungen schreiben und hatte doch selbst, abgesehen von ihrer kurzen Ehe, kaum Erfahrung damit. Ihre Spezialität war die Sorte Karten, die liebende Paare einander schicken, Meinem Schatz zum Geburtstag oder Ein Valentinsgruß meiner Liebsten , sowie Gedichte aus der vorgeblichen Feder eines heimlichen Verehrers.
    Deine Hand ist ein Täubchen für ihn
    Und dein Antlitz sein funkelnder Stern.
    Seine Minne aber gehört nur ihm –
    Dich liebt und verehrt er von fern.
    Verse dieser Art.
    Der junge Urur wusste jahrelang nichts von den gereimten Kartengrüßen, bis er eines Tages eine Weihnachtskarte für seine Mutter erstehen wollte und der Ladenbesitzer laut sinnierte, ob die Verse darin wohl von Alice stammten. Der Urur erschrak. Alice Simmonds?, fragte er. Ja, sagte der Ladenbesitzer und verriet, dass sie jetzt ihren Lebensunterhalt verdiene, indem sie im Auftrag einer Firma in Toronto die Texte für diese Karten schrieb.
    Fortan verbrachte der Vorfahr stets viel Zeit damit, den Grußkartenvorrat des Ladens nach neuen Gedichten von heimlichen Verehrern zu durchforsten. Die Empfindungen, die darin zum Ausdruck kamen, waren zwar, zugegeben, nicht so vielschichtig oder schicksalsschwer wie die Gefühle, die ein Byron oder Shelley in Verse kleidete, doch dem jungen Urur sehr vertraut, und auch wenn er nicht sicher sein konnte, welche Reime wirklich von Alice stammten, gelangte er zu der Einsicht, sie habe letztlich doch seine Gedanken gelesen und teile sich ihm auf diesem Weg mit. Er kaufte eine oder zwei der diskreteren Versionen. Doch er wagte nicht, Alice eine Karte zu schicken, denn obwohl er gewiss nicht die Absicht hatte, sich zu erkennen zu geben, fürchtete er, die ausgesuchten Verse könnten womöglich nicht von ihr stammen und es kränke sie, eine Karte mit einem Gedicht von jemand anderem zu erhalten.
    Dann pflügte er wieder mit seinen zwei Ackergäulen ein Feld oder fütterte seine Tiere oder beschnitt seine Apfelbäume und zerbrach sich den Kopf, wie sich wohl herausfinden ließe, welche Kartengedichte von Alice stammten. Er überlegte, sich an die Firma in Toronto zu wenden, aber vermutlich gab es deren mehrere, und ohnehin schienen ihm derart radikale Maßnahmen zu aufdringlich. Doch dann ergab sich von selbst eine Gelegenheit.
    Auf dem Postamt, wo er mehrere Päckchen Samen abholte, die er aus einem Katalog bestellt hatte, reichte ihm das Postfräulein ein an Alice adressiertes Paket. Oh, sagte sie, als sie ihr Versehen bemerkte, das ist ja für Alice, das sind bestimmt ihre Karten. Sie deutete schräg über die Straße zu Alicens Haus und sagte: Vormittags dichtet sie immer. Ich sehe sie dort am Fenster sitzen und fleißig arbeiten.
    Der junge Urur wusste, was er zu tun hatte. In dieser Woche musste er das nördliche Feld eggen, eine Arbeit, die im Morgengrauen begann und in der Abenddämmerung endete, er beschloss aber, sie noch ein, zwei Tage hinauszuschieben. Stattdessen würde er morgens zu Alice gehen und sich ein Buch ausleihen. Er würde jeden Tag hingehen, so lange, bis er einen Blick auf das Gedicht erhaschte, an dem sie dort am Tisch schrieb.
    Er brachte eine Ausgabe der Shakespeare’schen Sonette nach Hause und eine Sammlung Wordsworth, doch erst bei seinem dritten Morgenbesuch kam er dem Tisch nahe genug, um zwei unfertige Zeilen zu entziffern:
    Meine Liebe ist ein Geheimnis, das keiner kennt
    Als mein einsames Herz …
    Und diese zwei Zeilen erschütterten ihn dermaßen, dass er vergaß, wessenthalben er gekommen war, und so stand er, den Hut in der Hand, in der Küche und wusste nicht, worum er bitten sollte. Alice zog eine Gedichtsammlung von Robert Burns aus dem Regal, die er sich schon mehrfach ausgeliehen hatte, woraufhin er imstande war, seinen Hut wieder aufzusetzen und sich zu verabschieden. Er tat es, sagte mein Onkel, wissend, dass er einen folgenschweren Augenblick verpasst hatte, einen Moment, in dem er sich hätte offenbaren können. »›Kleinmütiges, furchtsames, verzagtes Wesen‹«, knurrte er den ganzen Rückweg zur Farm zornig vor sich hin.
    Doch hatte er nun diese Zeilen, die von ihrer Hand stammten, und sie schienen ihm ein Geschenk. Bald war er ein derart emsiger Stammkunde der Papeterieabteilung im Gemischtwarenladen, wo er sämtliche Karten studierte, auch die Weihnachtskarten,

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