Der Schmetterlingsbaum
Krieg stark bombardiert worden war, mochte stellenweise interessant sein, war aber derart mit gesichtslosen Wohnblocks zubetoniert, dass sie den Eindruck hatte, eine historische Stadt würde bei lebendigem Leib von der Gegenwart aufgefressen. Da sprach die Dichterin aus Mandy, und ich fragte mich, ob sie diese Beobachtung auch ihm mitgeteilt hatte.
Im Verlauf der zwei gemeinsamen Tage wurde er zunehmend angespannt, obwohl es wie immer, sagte sie lächelnd, auch Augenblicke echter Verbundenheit gab. Mandy beschrieb mir die Kirche voller Reliquienschreine, manche auf kunstvoll gearbeiteten Sockeln, manche sogar in Schiffsgestalt von der Decke hängend. Die Fingerknochen und Schädelsplitter, die in diesen Kunstwerken aufbewahrt werden, faszinierten ihn, ebenso die verblassenden, beschädigten Wandfresken mit Rudimenten eines Jüngsten Gerichts. Offensichtlich fesselte ihn diese Wandmalerei derart, dass er sagte, er wolle eines Tages, wenn es ginge, noch einmal allein herkommen, um sie genauer zu betrachten.
War es einfach Rücksichtslosigkeit, die ihn sagen ließ, er werde ohne sie irgendwann wieder in dieses Dorf kommen, das sie sich als »ihr« Dorf zu denken versuchte – einen Ort weit abseits der berühmten Kunstdenkmäler und damit auf eigene, prosaische Art einzigartig? Oder war es absichtliche Grausamkeit, wie ich allmählich glaubte? Wieder allein, weinte sie in den Zügen und Flugzeugen, die sie nach Kandahar zurückbrachten, und nahm nicht nur die intimen Augenblicke der Reise, sondern auch diese kleine Bemerkung Tausende Meilen mit zurück zum Kriegsschauplatz.
In der Woche nach Mandys Tod traf ein an meine Tante adressiertes offizielles militärisches Schreiben ein. Ich fürchtete, dieser Mann, dieser »Mister Military«, wie ich ihn insgeheim jetzt nur noch nannte, habe in seiner Eigenschaft als »höherer Offizier« den Brief verfassen müssen, und ich verachtete ihn vor allem wegen der Vorstellung, dass er sich dafür hergegeben hatte. Noch mehr hasste ich den ganzen militärischen Apparat, der sich nicht die Mühe gemacht hatte, in Erfahrung zu bringen, dass ihre Mutter tot war, genauer gesagt, während Mandys Einsatz gestorben. Ich warf den Brief ungeöffnet ins Feuer. Doch als ich am nächsten Morgen die kalte Asche vom Rost fegte, sah ich, dass das untere Viertel der Seite nicht verbrannt war. Die Worte »mein tiefstes Mitgefühl« und eine Unterschrift waren noch erhalten. Mir fiel wieder ein, dass Mandy in allen unseren Gesprächen sich nicht nur geweigert hatte, mir den Namen ihres Liebhabers zu verraten, sondern mir auch nie beschrieben hatte, wie er aussah.
Aber der Name war mir ja gleichgültig, genauso wie das Gesicht, der Rang. Mir genügte Mister Military. Für mich verkörperte er die ganze Operation, den ganzen Krieg, die Kameradschaft und die Angst, die erbärmliche Dankbarkeit für die guten Tage neben der Willkür der schlechten, und das Verführerische an alledem. Es brach mir das Herz, wie sie ihm immer alles hatte recht machen, ihm ihren Mut, ihre Selbstbeherrschung und ihre Diskretion hatte beweisen wollen. Sie war so fähig, so tüchtig, eine so gute Soldatin. Entgegen ihrer Überzeugung hätte sie alles, was sie für unerreichbar hielt, sehr wohl erreichen können und noch mehr, wenn es ihn nicht gegeben hätte. Stattdessen war sie gezwungen, ein Gefühlsleben auszuhalten, in dem er auftauchte und verschwand, wieder auftauchte und wieder verschwand, wie es ihm passte, während in den Kulissen der improvisierte Sprengkörper mit ihrem Namen darauf wartete, zur endgültigen Lösung zu werden. Wie reagierte er auf die Nachricht von ihrem Tod? Lief er da auch davon? Damals musste ich so denken, denn in meiner Vorstellung sah der Mann, den ich nie getroffen hatte und dessen Namen ich zweifellos niemals erfahren würde, exakt so aus wie mein Onkel.
N ur eine einzige Liebesgeschichte war unter den Geschichten meines Onkels. Protagonist war einer der Alten Urure: für uns ein Urgroßonkel, für andere ein Sohn, für manche ein Bruder, für niemanden Ehemann und Vater. Er hatte sich in seine Lehrerin verliebt, eine Frau, die mein Onkel als groß und dünn mit hochgeschlossenem Kragen und über dem Kragen einem Kopf voller Ideen beschrieb. Es waren die Ideen, in die er sich verliebte, obwohl ihr langer Hals und ihr gertenschlanker, biegsamer Körper auch eine gewisse Rolle gespielt haben dürften. Zwar gab es noch andere lange Hälse und biegsame Körper in der Nachbarschaft, sagte
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