Der Schmetterlingsbaum
mein Onkel, doch keiner hatte Zugang zur Frühgeschichte, zur Mythologie des Altertums und zur Dichtung, mit denen die Lehrerin während der sehr kurzen Zeit, die er für die Schule hatte, das Leben des Bauernjungen bereicherte.
Sie war älter als er, natürlich, aber nicht so viel älter, wie Sie vielleicht denken, denn in den Dorfschulen damals waren die Lehrer oft selbst erst siebzehn oder achtzehn – um sich für die Stelle zu qualifizieren, mussten sie nur die Highschool abgeschlossen haben. Die landwirtschaftliche Arbeit war für unseren jungen Vorfahren dermaßen zeitaufwendig, und seine Schulbesuche waren so sporadisch, dass er schon sechzehn war, als die neue Lehrerin kam. Wegen seines Alters und seiner Körpergröße fühlte er sich unbehaglich und gewaltig fehl am Platz, doch er war entschlossen, die Grundschule zu beenden. Seine Entschlossenheit wurde zur eisernen Gewissheit, nachdem er zum ersten Mal die neue Lehrerin zu Gesicht bekommen und sie »La belle dame sans merci« von John Keats hatte rezitieren hören – eine Bestätigung, sagte mein Onkel, sämtlicher Empfindungen, die sich des jungen Ururs beim Anblick der Dame vorn im Klassenzimmer augenblicklich bemächtigten.
Dies war der Anblick: ein wohlgeformtes Monument in weiblicher Gestalt vor der dunklen, waagrechten Leere der Tafel, die Anmut ihres Arms, der Sätze wie weiße Zäune in eine Landschaft aus Schiefer setzte oder ein Buch in die Höhe hielt, während sie las: »O was fehlt dir, Rittersmann, / Streifst du allein und schwach umher?« Eine starke Mischung. Eine Geschichte, wie diese Ballade sie erzählt, wird der junge Urur nie gehört haben. Doch nachdem er seine Lehrerin gesehen hatte, mag ihm etwas daran seltsam vertraut erschienen sein. Wie seinen leuchtturmwartenden, abzweigenden Verwandten packte auch ihn ein Interesse an der Literatur, und das war für alle Zeit mit der Lehrerin verknüpft. Er begann sich Bücher zu leihen, erst von den zwei schmalen Regalen an der hinteren Wand des Klassenzimmers und später, als er die Schule abgeschlossen hatte, von der Dame selbst. Auf diese Weise las er alles von Keats und eine nicht unbedeutende Menge Shelley und Byron. Und die ganze Zeit, während er Holzpflöcke über unebene Weiden schleppte, um Zäune zu errichten, oder Bäume fällte, dachte er über diese Gedichte und diese junge Frau nach. So war er einerseits ganz in Gedanken und andererseits ganz in Verschwiegenheit gehüllt, denn sie war mit einem anderen verlobt und sollte bald heiraten. Aber auch wenn sie frei gewesen wäre, war diese seine Liebe, sagte mein Onkel, etwas sehr Privates, das ihm allein gehörte – etwas, das ihn von seinen Brüdern trennte – , und nie hätte er gewagt, sich zu ihr zu bekennen, hätte es vielleicht auch nicht gewollt.
Die Heimlichkeit verhinderte allerdings weder, dass er in ausgedehnten Trübsinn verfiel, als sie heiratete, noch hielt sie ihn davon ab, weiterhin Bücher von ihr auszuborgen, auch als sie die Frau eines anderen war. Sie verhinderte indes, dass er, als sie eine kinderlose Witwe wurde, über seinen Schatten sprang und Farbe bekannte – für den jungen Mann wäre es der ideale Moment gewesen, um auf sie zuzugehen, sagte mein Onkel, denn inzwischen hatte er eine eigene Farm, und mit der stand er ziemlich gut da.
Männer, sagte mein Onkel, können ihre Gefühle schlecht ausdrücken. Und je heftiger die Gefühle, desto sprachloser werden sie, versicherte er uns. Keine besonders originelle Erkenntnis, aber interessant insofern, als sie von meinem Onkel kam. Statt zu reden, ging der junge Urur, wenn ihn wieder mal gewisse heftige Gedanken an die Frau heimsuchten, zu ihr und bat sie um ein bestimmtes Buch, von dem er sich einen Widerhall auf besagte Gedanken erhoffte. Vielleicht war das eine besondere Verständigungsart zwischen den beiden; wahrscheinlicher ist allerdings, dass die Dame, inzwischen in den Dreißigern, einfach annahm, dass er wirklich nur die Bücher wollte. Ihm war wichtig, dass er ihre Bücher bekam. In der Stadt, in der sie beide lebten, gab es unterdessen eine ausgezeichnete Bibliothek, und er hätte sich ebenso leicht dort Coleridge oder Robert Browning aus dem Regal holen können, doch fühlte er offenbar keinen Drang, einen Band zu lesen, wenn die Geliebte nicht eigenhändig die Seiten umgeblättert hatte.
Als ihr Mann gestorben war, kehrte die Frau – Alice Simmonds hieß sie – nicht als Lehrerin in das kleine Schulhaus zurück. Stattdessen entwickelte
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