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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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und er ist darauf bedacht gewesen, leise zu gehen –, da kommt sie in Mantel und Hut aus ihrer Wohnung, was darauf schließen läßt, daß sie hinter der Tür, vielleicht schon stundenlang, auf ihn gewartet hat.
    Er kann nicht anders, er muß unten auf sie warten, wo Schneeflocken auf seinen Lippen zergehen.
    »Willst du mich nicht mehr sehen?«
    »Doch.«
    »Seit zwei Tagen weichst du mir aus.«
    »Ich weiche niemandem aus. Ich war sehr beschäftigt.«
    »Frank!«
    Hat sie auch an die alte Vilmos gedacht? Ist sie intelligent genug, um ihn mit der Zeitungsmeldung in Verbindung zu bringen?
    »Warum hast du kein Vertrauen zu mir?« fragt sie vorwurfsvoll.
    »Ich habe Vertrauen.«
    »Du sagst mir nichts von dem, was du tust.«
    »Weil das Mädchen nichts angeht.«
    »Ich habe Angst, Frank.«
    »Wovor?« 
    »Angst um dich.«
    »Was brauchst du Angst um mich zu haben?«
    »Verstehst du nicht?«
    »Doch.«
    Es dämmert, und es fällt immer noch ein feiner Schnee. Es ist wie bei Sommergewittern: wenn es zu lange dauert, wartet man schließlich beklommen auf den erlösenden Schneefall, der den Himmel reinigt und einen dann wieder die Sonne sehen läßt, und sei es auch nur für ein paar Augenblicke.
    »Komm.«
    Er faßt sie unter. Das haben Mädchen immer gern.
    »Hat dein Vater dir nichts gesagt?«
    »Weswegen?«
    »Ahnt er nichts?«
    »Wenn er etwas ahnte, wäre es furchtbar.«
    »Glaubst du wirklich?«
    Franks Skepsis empört sie.
    »Frank!«
    »Er ist ein Mann wie alle anderen. Er wird sich wohl auch mal mit einer Frau eingelassen haben.«
    »Sei still.«
    »Ist deine Mutter tot?«
    Sie zögert und wird verlegen.
    »Nein.«
    »Sind sie geschieden?«
    »Sie ist fortgegangen.«
    »Mit wem?«
    »Mit einem Zahnarzt. Laß uns nicht mehr davon sprechen, Frank.«
    Sie haben die Gerberei hinter sich und kommen an das alte Bassin, das früher, bevor man den Staudamm baute, ein Hafen war. Jetzt ist fast kein Wasser mehr darin, und die alten Kähne, die man, Gott weiß warum, dort gelassen hat, verfaulen mehr und mehr, und einige sind umgekippt.
    Dort, wo die beiden gehen, ist im Sommer eine Grasböschung, auf der die Kinder aus dem Viertel spielen.
    »War er ein schöner Mann, der Zahnarzt?«
    »Ich weiß es nicht. Ich war noch zu klein.«
    »Hat dein Vater versucht, sie zurückzuholen?«
    »Ich weiß es nicht, Frank. Wir wollen nicht von Papa sprechen.«
    »Warum nicht?«
    »Weil …«
    »Was hat er früher getan?«
    »Er schrieb Bücher und Artikel für Zeitschriften.«
    »Bücher über was?«
    »Er war Kunstkritiker.«
    »Ging er in die Museen?«
    »Er kennt alle Museen der Welt.«
    »Und du?«
    »Einige.«
    »In Paris?«
    »Ja.«
    »In Rom?«
    »Ja. Und in London, Berlin, Amsterdam, Bern …«
    »Ihr steigt in den guten Hotels ab!«
    »Ja, warum fragst du mich das?«
    »Was macht ihr, wenn ihr zusammen seid?«
    »Wo?«
    »Bei euch. Wenn dein Vater nicht seine Straßenbahn fährt.«
    »Er liest.«
    »Und du?«
    »Er liest mir vor und erklärt es mir.«
    »Was liest er vor?«
    »Bücher aller Art. Vor allem Gedichte.«
    »Macht dir das Spaß?«
    Sie möchte so gern, daß sie von etwas anderem sprächen. Sie spürt, daß er kühler wird, daß er sie verabscheut. Sie würde sich so gern enger an ihn schmiegen und mit ihren bloßen Fingern seine drücken, aber er tut so, als merkte er es gar nicht.
    »Komm«, sagt er schließlich.
    »Wo willst du mich hinführen?«
    »Ganz in die Nähe. Zu Timo. Du wirst schon sehen.«
    Es ist noch früh. Die Musik spielt noch nicht. Es sind bloß Stammgäste da, die mit Timo oder untereinander handeln. Nicht eine Frau. Und die Farben der Wände und Lampenschirme wirken greller als sonst. Man hat ein wenig das Gefühl, am hellen Tage in ein Theater während einer Probe einzudringen.
    »Frank …«
    »Setz dich.«
    »Es wäre mir lieber gewesen, wenn wir ins Kino gegangen wären.«
    Wohl weil es dort dunkel ist? Aber gerade nach Dunkelheit verlangt es ihn nicht, noch nach dem säuerlichen Geschmack ihres Speichels, und auch nicht danach, die Hand an ihrem Strumpfband entlanggleiten zu lassen.
    »Leidet er darunter, daß ihn nie jemand besucht?«
    Sie braucht einen Augenblick, bis sie begreift, daß immer noch von ihrem Vater die Rede ist.
    »Nein. Warum sollte er darunter leiden?«
    »Ich weiß es nicht. Seid ihr reich gewesen?«
    »Ich glaube. Ich habe lange eine Hauslehrerin gehabt.«
    »Bringt der Beruf des Straßenbahnfahrers etwas ein?«
    Sie sucht unter dem Tisch nach seiner Hand und sagt

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