Der Schnee war schmutzig
Auge hing der Katze aus der Augenhöhle heraus.
Frank könnte nicht mehr sagen, wie sich das eigentlich zugetragen hatte. Es hatten sich schnell fünf, dann zehn Erwachsene versammelt, dazu noch viele Kinder, und alle blickten wie gebannt hinauf. Jemand hatte auch eine Laterne mitgebracht.
Man versuchte, die Katze herunterzulocken, indem man sichtbar auf den Boden eine Schale voll warmer Milch stellte. Natürlich hatte man vorher den Hund in seiner Hütte an die Kette gelegt. Dann waren alle zurückgetreten und verhielten sich möglichst ruhig.
Aber die Katze rührte sich nicht. Immer wieder miaute sie kläglich.
»Du hörst doch, sie ruft.«
»Ja, sie ruft vielleicht, aber nicht uns.«
Als man sie fassen wollte und dafür auf einen Stuhl geklettert war, war sie auf einen höheren Ast gesprungen.
Das Ganze hatte lange gedauert, mindestens eine Stunde. Immer mehr Nachbarn kamen herzu. Man erkannte sie an ihren Stimmen. Ein junger Mann war in den Baum geklettert, und jedesmal, wenn er den Arm ausstreckte, sprang die Katze höher hinauf, so daß man sie schließlich von unten nur noch wie eine dunkle Kugel sah.
»Links, Helmut … Am Ende des dicken Astes …«
Das merkwürdigste war, daß, sobald man die Jagd aufgab, das verletzte Tier wieder zu miauen anfing, als wäre es darüber entsetzt, daß man es im Stich ließ.
Man schleppte dann Leitern herbei. Alle waren sehr aufgeregt, und der Straßenarbeiter sagte immer wieder, er wolle sein Gewehr holen, aber man gebot ihm, still zu sein.
Man konnte die schwarzweiße Katze nicht fangen. Und so gingen alle wieder nach Hause. Man ließ die Milch und Fleischreste für sie stehen.
»Sie ist hinaufgekommen und wird darum auch wieder herunterkönnen.«
Am nächsten Tag saß die Katze immer noch in der Linde, fast ganz oben, und miaute den ganzen Tag. Immer wieder versuchte man, sie einzufangen. Man hielt Frank zurück, sie sich anzusehen, damit ihm der Anblick des heraushängenden Auges erspart blieb. Selbst Frau Porse wurde fast krank davon. Das Ende der Geschichte hat Frank nie erfahren. Am dritten Tag versicherte man ihm, die Katze sei weg. Stimmte das? Hatte man es nicht nur gesagt, um seine Empfindsamkeit zu schonen? Etwas ganz Ähnliches hat sich jetzt zugetragen, mit dem Unterschied nur, daß es sich diesmal nicht um eine Katze, sondern um Sissy handelt.
Frank ist schließlich ganz allein in das hintere Zimmer gegangen, nachdem er sorgfältig die Tür hinter sich geschlossen hatte, fast feierlich, als beträte er ein Totenzimmer.
Ohne die verwühlten Laken anzusehen, hat er die Decke wieder über das Bett gebreitet, und er hätte sich vielleicht auf das Bett gelegt, wenn er nicht plötzlich einen Gegenstand auf dem Nachttisch hätte liegen sehen.
Kurz zuvor hatte er Sissys schwarze Wollstrümpfe in der Hand gehalten, die an den Fersen fein gestopft waren, wie es junge Mädchen in Klosterschulen lernen.
Nicht aus Neugier hat er nach der Handtasche auf dem Nachttisch gegriffen. Er wollte sie nur berühren. Er konnte es tun, da er ja allein war. Da aber ist ihm etwas eingefallen. Er hat sich an Lotte erinnert, die fast immer klingelt, wenn sie nach Hause kommt, und dann entschuldigend sagt: »Ich habe wieder einmal meinen Schlüssel in meiner alten Handtasche gelassen.«
Auch Sissy hat einen Schlüssel, den Schlüssel von der gegenüberliegenden Wohnung. Wohin hätte sie ihn gesteckt, wenn nicht in ihre Handtasche?
Sie hat nicht daran gedacht, als sie floh, und es ist ihr auch nicht der Gedanke gekommen, wieder in die Wohnung zu gehen. Sie hat nicht einmal Herrn Wimmer bemerkt, der sie festzuhalten versuchte.
Ihr Schlüssel ist also hier in der Handtasche, dazu ein Taschentuch, ein paar Lebensmittelkarten, ein paar Geldscheine, Kleingeld und ein Bleistift.
»Wo wollen Sie hin, Herr Frank?«
Es war noch nicht sechs Uhr. Er sah deutlich die schwarzen Zeiger auf dem Zifferblatt des Weckers in der Küche. Minna hatte sich nicht wieder hingelegt, sondern saß am Ofen. Sie nannte ihn wieder Herr Frank und verfolgte ihn mit ängstlichen Blicken.
Er war sich nicht bewußt, daß er eine kleine Handtasche aus schwarzem Wachstuch in der Hand hielt, daß er barhäuptig war, keinen Mantel anhatte und die Flurtür in dieser Aufmachung öffnete.
»Ziehen Sie wenigstens Ihren Mantel an, wenn Sie fortgehen.«
Ein Kranker vergißt seine Schmerzen, wenn er jemanden pflegen muß, der noch mehr leidet als er. Minna spürte gar nicht mehr, daß ihr der Unterleib weh tat.
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