Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
Vom Netzwerk:
anderen Zeit. Auch das gehört zu ihren Tricks. Sonst wäre es zu leicht. Die Nachmittags- und die Abendverhöre finden immer wieder zu einer anderen Zeit statt. Die Morgenverhöre dagegen fast immer zur gleichen Zeit. Die Häftlinge von nebenan sind von ihrem Spaziergang zurückgekommen. Sie hassen Frank gewiß und betrachten ihn als einen Verräter. Er hört weder auf ihre Botschaften, noch beantwortet er sie; er leitet sie auch nicht weiter. Auch das hat er begriffen. Die Botschaften werden von einem Klassenzimmer zum anderen, von Wand zu Wand, weitergeleitet, selbst wenn man sie nicht versteht, denn es besteht die Möglichkeit, daß sie jemanden erreichen, für den sie wichtig sein könnten.
    Es ist nicht seine Schuld. Er hat keine Zeit und auch keine Lust dafür. Es kommt ihm kindisch vor. Diese Leute beschäftigen sich mit der Außenwelt, mit ihrem Leben, mit Kindereien. Sie verübeln es ihm zu Unrecht. Er ist sich bewußt, ein Spiel zu spielen, bei dem es um viel mehr geht als in ihrem, und er muß dieses Spiel gewinnen. Es wäre furchtbar, wenn er es nicht voll und ganz gewänne.
    Er schläft. Er schläft sofort ein, sobald das Fenster wieder geschlossen ist. Er versinkt in möglichst tiefen Schlaf, um neue Kraft zu gewinnen. Er hört Schritte in dem Raum rechts und Jammern in dem Raum links. Es muß ein alter oder ein ganz junger Mensch sein, der unaufhörlich stöhnt und wimmert.
    Wie meistens werden sie vor dem Essen kommen. Frank hat noch einen Rest Speck und ein Stück Wurst. Er weiß übrigens nicht, warum man ihm die beiden Pakete ausgehändigt hat, denn ohne sie wäre er noch schwächer.
    Er ist nicht weit davon entfernt, dem Chef eine gewisse Anständigkeit in der Wahl seiner Mittel zuzugestehen. Vielleicht kommt es daher, daß er es liebt, wenn ein Fall kompliziert ist. Vielleicht auch durch Franks Alter, den er für einen grünen Jungen hält und dem er, um nicht über seinen Sieg erröten zu müssen, eine zusätzliche Chance gewähren will.
    Heute holt man ihn sicherlich wieder kurz vor dem Essen. Es ist unwichtig, was es für ein Tag ist. Er zählt nicht mehr nach Tagen und Wochen. Er hat jetzt andere Merkmale. Er zählt nach dem Hauptgegenstand der Verhöre, sofern man von einem Hauptgegenstand bei einem Mann sprechen darf, der alles absichtlich verwickelter macht.
    Es ist der Tag nach Berta, und vier Tage nach dem Hausputz in dem Zimmer mit dem offenen Fenster. Das genügt.
    Er war übrigens darauf gefaßt. Er ist hinter den Rhythmus gekommen wie bei dem Kommen und Gehen des Ehepaars. An einem Tag holt man ihn sehr früh, an einem anderen ziemlich spät, manchmal kurz vor der Essensausgabe, wenn man auf der Treppe schon das Klappern der Kannen hört.
    Er hätte am Anfang die Suppe nicht bis zum letzten Tropfen auslöffeln sollen. Sie ist nicht gut. Es ist nur warmes Wasser mit Steckrüben. Manchmal schwimmen ein paar weiße Bohnen darin. Es kommt auch vor, daß Fettaugen darauf zu sehen sind, wie auf Abwaschwasser, und wenn man Glück hat, entdeckt man dann auf dem Grunde ein winziges Stück graues Fleisch.
    Ihn brauchte das nicht zu interessieren. Er hat ja Wurst und Speck, aber er setzt sich gern mit dem Napf zwischen den Beinen auf den Bettrand, und es bereitet ihm Genuß, die warme Suppe durch Kehle und Speiseröhre in den Magen fließen zu spüren.
    Der Chef, den man nie auf dem Hof und schon gar nicht auf den Gängen sieht, muß das erraten haben, denn er läßt Frank immer vor der Essensausgabe holen.
    Frank hat die Schritte mitten im Schlaf erkannt, es sind die Schritte von zwei Männern; der eine trägt Schuhe mit Ledersohlen und der andere genagelte Soldatenstiefel. Sie kommen zu ihm. Man könnte glauben, er sei der einzige Häftling, der verhört wird. Frank bleibt ruhig liegen. Er wartet, bis sich die Tür öffnet, und selbst dann tut er so, als ob er schnarche, um noch ein paar Sekunden zu gewinnen.
    Man muß ihm auf die Schulter tippen. Es ist zu einer Art Spiel geworden, aber sie scheinen es gar nicht zu merken.
    Um Zeit zu gewinnen, wäscht er sich auch kaum noch. Die ganze Zeit, über die er verfügt, ist dem Schlaf vorbehalten, und was er jetzt unter Schlaf versteht, ist viel wichtiger als der übliche Schlaf. Sonst würde es sich nicht lohnen, jeden Bröckel Zeit zusammenzukratzen, wie er es tut.
    Er lächelt ihnen nicht zu. Sie sagen auch nicht guten Tag. Alles geht wortlos, mit einer trüben Gleichgültigkeit vor sich.
    Er zieht seinen Mantel aus und zieht die Jacke an.

Weitere Kostenlose Bücher