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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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all seiner Umwege doch geradezu unheimlich auf ein Ziel zugeht.
    Hier bietet man Frank keine Zigaretten an. Man nennt ihn nicht Friedmaier und klopft ihm nicht auf die Schulter. Man gibt sich nicht die Mühe, freundliche Gefühle vorzutäuschen.
    Es ist eine andere Welt. Frank hat auf dem Gymnasium nie etwas von Mathematik begriffen, und das Wort selbst ist ihm immer etwas rätselhaft vorgekommen.
    Nun, hier treibt man Mathematik. Es ist eine grenzenlose Welt, die durch ein kaltes Licht beleuchtet wird und in der sich nicht Menschen bewegen, sondern abstrakte Wesen, Namen, Nummern, Zeichen, die jeden Tag ihre Stellung und ihren Wert ändern.
    Das Wort Mathematik ist nicht ganz richtig. Wie nennt man den Raum, in dem sich die Gestirne bewegen? Frank findet das Wort nicht. Er ist manchmal so müde. Abgesehen davon, daß diese Einzelheiten belanglos geworden sind. Es kommt nur darauf an, daß man begreift, daß er sich begreift.
    Kromer war eine ganze Zeit ein Stern erster Größe. Was Frank eine ganze Zeit nennt, ist zum Beispiel die Spanne von zwei Verhören, die in nichts, weder im Tempo noch in der Länge, dem Verhör durch den Offizier ähneln.
    Aber Kromer ist nun sozusagen in Vergessenheit geraten. Er irrt dort oben unter den namenlosen Sternen umher. Nur hin und wieder holt man ihn von dort mit einer gleichgültigen Gebärde für eine oder zwei Fragen zurück, fängt ihn gleichsam wie einen Fisch, den man dann wieder ins Wasser wirft.
    Es gibt die Logik der einen und die Logik der anderen. Die Logik des Offiziers, der nur an die Banknoten und wahrscheinlich auch an den General dachte, und die des Chefs, der sich, könnte man schwören, nicht im geringsten dafür interessiert, wenn er überhaupt etwas davon weiß.
    Das Endergebnis ist zwangsläufig das gleiche. Man setzt einen Mann nicht wieder auf freien Fuß, der so viel weiß.
    Für den Offizier ist Frank im Grunde schon tot.
    Er hat ihn ins Gesicht geschlagen, aber Frank hat nichts gesagt.
    Tot! Aber dann taucht der Chef auf, schnüffelt und erklärt: »So tot ist er gar nicht.«
    Denn selbst mit einem Toten oder einem Dreivierteltoten kann man noch etwas anfangen. Und es ist die Aufgabe des Chefs, aus den Leuten etwas herauszuholen.
    Die Banknoten und der General sind belanglos, wenn nur etwas da ist. Und es ist etwas da, denn Frank ist da.
    Wäre es nicht Frank, sondern irgendein anderer, dann wäre auch etwas da.
    Um dem Chef standzuhalten, kommt es darauf an, daß man schläft. Er schläft nicht. Er braucht keinen Schlaf. Wenn er einnickt, kann er sich gewiß wie einen Wecker stellen und jeden Tag zu der Stunde, die er sich vorgenommen hat, frisch, nüchtern und klar sein.
    Er ist ein Fisch. Ein Mensch mit Fischblut. Fische haben kaltes Blut. Bestimmt schnuppert er nicht den Geruch seiner Achselhöhlen und belauert nicht eine Gestalt, die so winzig wie eine Puppe ist, an einem fernen Fenster.
    Der Chef wird gewinnen. Er hat alle Trümpfe in der Hand und kann es sich obendrein leisten, zu mogeln. Für Frank besteht schon seit langem keine Aussicht mehr, daß er gewinnt.
    Würde er noch gewinnen wollen, wenn er es könnte?
    Es ist nicht sicher. Es ist unwahrscheinlich. Auf das Durchhalten kommt es an. Er muß lange durchhalten. Er muß jeden Morgen das Fenster wiedersehen, die Frau, die sich herausbeugt, die Windeln, die in der Sonne auf der Leine trocknen.
    Worauf es ankommt, ist, jeden Tag einen weiteren Tag zu gewinnen. Und darum wäre es lächerlich, weiter in die Wand Striche einzuritzen. Sie haben keinen Sinn mehr.
    Frank hat sich vorgenommen, nicht nachzugeben. Nicht aus Prinzip, nicht um irgend etwas zu retten, auch nicht um der Ehre willen, sondern weil er eines Tages, als er noch nicht wußte, warum, beschlossen hat, nicht nachzugeben.
    Ob der Chef wie er nur mit einem Auge schläft? Dann ist es ein Fischauge. Ganz rund, ohne Lider und starr, während Frank absichtlich und wollüstig seinen Bauch auf das Brett preßt wie auf eine Frau.
2
    Er nimmt es ihnen nicht übel. Es ist ihre Aufgabe, mit allen Mitteln zu versuchen, seinen Widerstand zu brechen. Sie glauben es mit Schlafentzug zu erreichen und richten es so ein, daß er niemals mehrere Stunden hintereinander schlafen kann. Sie ahnen nicht – und sie dürfen auch nicht dahinterkommen –, daß er schlafen gelernt hat und daß im Grunde sie es ihm beigebracht haben.
    Da das Fenster gegenüber wieder geschlossen ist, weiß er, daß man ihn bald wieder holen wird. Es geschieht jeden Tag zu einer

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