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Der Schneesturm

Der Schneesturm

Titel: Der Schneesturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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erholn.«
    Forschend sah der Doktor dem Krächz ins Gesicht.
    »Hör mal, mein Freund. Spiel mir nicht den Dummen.Sich vom Schreck erholen! Ich hab anderes zu tun, als mir die Nacht mit dir um die Ohren zu schlagen! Setz dich gefälligst auf den Bock und gib ihnen verdammt noch mal die Knute! Aber hopp-hopp! Vom Schreck erholen, da hört sich doch alles auf! Die haben genug rumgestanden! Jetzt mal hurtig!«
    Das laute Organ des Doktors hallte durch die Nacht.
    Gehorsam deckte der Fuhrmann die Matte über die Kaube. Der Doktor nahm Platz auf dem Bock, die Tasche hatte er zu seinen Füßen abgestellt. Dabei tastete er auch nach der Tüte mit den Pyramiden. Sie lag am alten Fleck.
    Der Krächz setzte sich neben ihn, griff nach dem Lenkscheit, zerrte an den Zügeln, schnalzte.
    »Hü-üh, ihr Lieben!«
    In der Kaube tat sich nichts – so als wäre sie leer. Mit einem Seitenblick auf den Doktor wiederholte der Krächz das Schnalzen.
    »Hü!«
    In der Kaube unveränderte Stille.
    »Willst du dich lustig über mich machen?«, fragte der Doktor, die Geduld verlierend, mit gefurchter Stirn. »Gib mir die Knute und mach da vorne auf!«
    Er zerrte die Knute aus dem Futteral.
    »Das tät nich helfen, der Herr.«
    »Mach auf, sag ich!«
    »Lieber nich, der Herr. Vor Wölfen kriegen sie die Schreckstarre. Bevor die nich über alle Berge sind, tun die kein Schritt. Ich hab das eine Mal zwei Stunden stehn müssen kurz vor Chljupino …«
    »Du-sollst-auf-ma-chen!«, brüllte der Doktor und versetzte dem Krächz einen derben Stoß.
    Der Fuhrmann rutschte vom Bock in den Schnee, die Mütze fiel ihm vom Kopf. Unbeholfen sprang der Doktor hinterher und ging daran, die Matte eigenhändig von der Kaube zu zerren.
    »Schreckstarre! Denen mach ich Beine! Dort sterben die Leute, und hier gibts Erholungsstündchen!«
    Die Mütze in der Hand, näherte der Krächz sich dem Doktor.
    »Bitte nich, der Herr.«
    »Ich werds dir zeigen, von wegen Schreckstarre«, murmelte der Doktor und riss die bereiften Schlaufen von den Haken.
    Ihm war auf einmal klar geworden, dass es der Krächz war, dieser elende Wicht, mit seinem Phlegma, seiner plauderhaften Gemächlichkeit, dieses typische Komm-ich-heute-nicht-komm-ich-morgen der Landbevölkerung, was ihm, dem Doktor, im Weg stand, was ihn hinderte, ans Ziel zu kommen.
    Lahmarsch!, durchzuckte es den Doktor wütend.
    Als die Hälfte der Schlaufen von den Haken gerissen waren, klappte er die Matte auf.
    Die Tiere standen reglos im Mondlicht und sahen aus wie Porzellanpferdchen. Misstrauisch äugten sie nach dem Doktor.
    »He-hopp! Ab die Post!«, brüllte der Doktor und schwang die Knute, doch der Krächz fiel ihm in den Arm.
    »Bitte nich …«
    »Was fällt dir ein!« Wütend riss der Doktor sich los. »Saboteur!«
    »Nich die Pferde schlagen, der Herr.« Der Krächz zwängte sich zwischen den Doktor und das Mobil. »Bitte nich.«
    »Ich werd dir Gauner … Ich bring dich vor Gericht!«
    »Versündigt Euch nich, bittschön. Ich hab sie noch nie geschlagen.«
    »Zur Seite!«

    »Nein, der Herr.«
    »Geh zur Seite, du Knilch!«
    »Nein.«
    Der Doktor warf die Knute weg, holte aus und drosch dem Krächz die Faust ins Gesicht. Der Krächz fiel wie ein Sack in den Schnee.
    »Mich könnt Ihr schlagen, bloß nich die Pferde. Das erlaub ich nich!« Der Fuhrmann schrie es heraus mit einer so gepressten, so verzweifelten dünnen Stimme, dass dem Doktor die zum neuen Schlag erhobene Faust in der Luft hängen blieb.
    Was tue ich da?, fragte sich der Doktor, erstaunt über die eigene helle Wut, und trat einen Schritt zurück.
    Der Krächz wälzte sich in Richtung Mobil und setzte sich auf, griff nach seiner Mütze. Begann sie schweigend abzuklopfen. Sein Vogelgesicht, so kam es dem Doktor vor, lächelte immer noch. Er setzte die Mütze auf und blieb im Schnee sitzen.
    Merkwürdigerweise gaben die Pferdchen immer noch keinen Mucks von sich.
    Seufzend entfernte sich der Doktor ein paar Schritte, holte das Zigarettenetui hervor und rauchte.
    In der Ferne heulte ein Wolf.
    Irgendwie blöd!, dachte der Doktor. So außer sich zu geraten. Wieso eigentlich? Das Ärgste liegt doch hinter uns, der Schneesturm ist überstanden. Aber jetzt will er nicht weiter. So eine Idiotie!
    Das letzte Mal, dass er einen Menschen ins Gesicht geschlagen hatte, so fiel ihm ein, war zu Hause in Repischnaja gewesen, als sie die drei Burschen vorsorglich in Fesseln legten, die zu viel Fliegenpilze gegessen hatten. Einem hatte er zwei Schläge

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