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Der Schneider himmlischer Hosen

Der Schneider himmlischer Hosen

Titel: Der Schneider himmlischer Hosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniele Varè
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Winter 1915/16 erkrankte der Kleine Lu. Die Eltern versuchten, ihn mit den üblichen Mitteln zu heilen. Sie besuchten den Tempel Kuan-tis, des Kriegsgottes. Er ist der beliebteste aller Götter, und diese Beliebtheit stammt noch aus der alten Zeit, da alle Mandschus Krieger waren. Vater und Mutter des Kleinen Lu brachten die vorgeschriebenen Geldgeschenke dar und verbrannten Weihrauch vor dem Bilde des Kuan-ti. Dann vollführten sie die Zeremonie des «Erlangens der Himmlischen Vorschrift» (chou shen fan) und verschafften sich eine Arznei, die der von Gott gelenkte Zufall als Heilmittel vorschrieb.
    Aber der Kleine Lu hatte wenig davon. Sein Zustand besserte sich auch nicht, als man ihm, in Tee aufgelöst, die Asche von Zetteln zu trinken gab, auf denen die bekanntesten Sprüche des Konfuzius und Lao-tse standen. Die völlige Nutzlosigkeit dieser Medizin erweckte einen Verdacht im Gehirn der Alten Gebieterin — den Verdacht, daß möglicherweise bösartige Einflüsse auf dem Heim der Fünf Tugenden lasteten.
    Kuniang war es, die mir davon erzählte. Sie ist über das Privatleben der Fünf Tugenden stets genau unterrichtet, und sie kränkte sich sehr über die Krankheit des Kleinen Lu.
    «Ich glaube nicht, daß es ihm wirklich so schlecht geht», meinte ich. «Er ist recht mager geworden, aber er hat heute in den Höfen gespielt.»
    «Wenn sie ihn in Ruhe ließen, würde er bestimmt gesund werden», erwiderte Kuniang. «Aber man kann nie wissen, was der Alten Gebieterin nächstens einfällt. Sie will einen Zauberdoktor aus der Liu-li-chang befragen. Die Fünf Tugenden haben ihren eigenen Zauberer, aber der ist nur schwer zu erreichen, denn er lebt irgendwo in den Westbergen und kommt bloß ab und zu nach Peking. Wenn sie den zu Rate zögen, hätte ich weit weniger Angst. Er ist ein kluger und vernünftiger. Bursche. Aber die gewöhnlichen Zauberdoktoren sind Tiere.»
    Kuniang hatte nicht so unrecht. Der Zauberdoktor kam ins Haus und ließ seinen Zauber spielen, der (ihm wenigstens) die Krankheitsursache verriet. Das wenige Monate alte Schwesterchen des Kiemen Lu war als Träger böser Einflüsse in die Familie gekommen. Sie zehrte am Lebensmark des älteren Bruders, wie ein Vampir Blut saugt. Man mußte den Kleinen Lu vor ihrem bösartigen Einfluß schützen, sonst würde er sicherlich sterben.
    Und hier wäre es ohne Kuniang fast zu einer Tragödie gekommen. Es ist nur allzu leicht, sich eines Säuglings zu entledigen: ein Topf kochenden Wassers, in das man sein Köpfchen taucht, genügt — und nach den Vorschriften chinesischer Volksweisheit ist alles wieder in schönster Ordnung. Zum Glück riet Kuniang Unvergleichlicher Tugend — dem das Herz beinahe brach, weil er sein jüngstes Kind opfern sollte —, mit mir zu sprechen. Nach mehreren Beratungen fanden wir (oder glaubten es zumindest) einen Ausweg.
    Der schädliche Einfluß des Schwesterchens beruhte auf dem Umstand der verwandtschaftlichen Beziehung zum Kleinen Lu. Wäre es nicht Mitglied derselben Familie gewesen, hätte es auch nicht am Lebensmark der Brüder und Schwestern zehren können. Daher genügte es, das kleine Fräulein Lu von einem Fremden adoptieren zu lassen; damit war sie aus der Familie der Fünf Tilgenden ausgeschlossen und konnte ihr nicht mehr schaden.
    Also übergab man sie Nachbarsleuten, die sie gegen entsprechendes Entgelt adoptierten.
    Aber leider besaß auch diese Familie eine Alte Gebieterin (Großmütter sind der Fluch Chinas), und die wurde nach Zustandekommen der Vereinbarung zufällig krank. Damit war ein neuer, unwiderleglicher Beweis dafür erbracht, daß das kleine Wesen einen bösen Einfluß ausübte; noch dazu brüllte es, weil man ihm die Mutter genommen hatte.
    Kuniang erzählte mir schleunigst diese Neuigkeit, und wieder beschloß ich einzugreifen. Ich sagte Unvergleichlicher Tugend, er möge sein Kind mir übergeben. Gleichzeitig bestand ich darauf, daß der Kleine Lu in die Behandlung eines europäischen Arztes kam und die von diesem vorgeschriebene Diät befolgte.
    Diesmal klappte es blendend. Fräulein Lu kehrte zu ihrer Mutter zurück und nährte sich wieder — wie Mr. Micawber es ausgedrückt hätte —, an den Quellen der Natur, Mit jedem Tag wurde sie runder, desgleichen der Kleine Lu, den man nun nicht mehr mit Aufgüssen konfuzianischer Weisheitssprüche behandelte.
    Meine eigene Gesundheit blieb unverändert. Es gab keinerlei Grund zur Klage.
    Zum Dank für mein segensreiches Eingreifen wollte mir die

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