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Der Schneider himmlischer Hosen

Der Schneider himmlischer Hosen

Titel: Der Schneider himmlischer Hosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniele Varè
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stolpernd ad infinitum wiederholte Fingerübungen oder den neuesten Schlager, von kleinen Kindern mühsam mit einem Finger, zusammengesucht.
    Das Zimmer wurde von einem Dauerbrandofen geheizt, dessen rostiges Rohr sich rund um die Wände schlängelte; an Drähten, die von verschieden großen Nägeln gehalten wurden, hing es vom Gesims herab und mündete oberhalb einer auf die Veranda führenden Glastür ins Freie. Ein derartig langes Rohr vergrößerte vielleicht die Heizkraft des Ofens, ließ aber auch zahlreiche Rauchgase entweichen, die brennende Kohle entwickelt. Der Ofen stand vor einem leeren Kamin, der offenbar vor Jahren eingebaut worden war, um dem Bedürfnis der Ausländer nach Kaminfeuer Rechnung zu tragen. Aber es sah aus, als hätte man ihn nie benützt.
    Über der Kaminplatte ragte ein großer Spiegel in vergoldetem Rahmen schief ins Zimmer; darinnen spiegelte sich der Mittel tisch und der herabhängende große, grüne Lüster. Der Tisch war von einer rostfarbenen Decke mit gelbem Fransensaum bedeckt. Bücher, Zeitungen, Zeichenpapier, Farbentuben und Zigarettenschachteln lagen in buntem Durcheinander darauf.
    An der Wand, über dem Piano, hing eine Originalskizze zu Wereschtschagins berühmtem Gemälde «Zurückgelassen», das einen sterbenden, von seinen Kameraden verlassenen Soldaten darstellt. Verschiedene Reproduktionen aus der Serie «1812» desselben Malers, die den russischen Feldzug Napoleons behandelt, wirkten nicht weniger herzzerreißend. Nur ein Russe mit seiner charakteristischen geistigen Unempfindlichkeit, mit seiner Gewohnheit, Theorie und Praxis auseinanderzuhalten, kann, es ertragen, in Kriegszeiten täglich solche Szenen vor Augen zu haben.
    Während ich die Bilder ansah, brachte mir Natascha eine Tasse Tee. Sie erzählte, daß Wereschtschagin ein Freund ihres Vaters gewesen sei.
    «Er wurde in die Luft gesprengt; Sie wissen doch, mit dem , im Jahre 1904.»
    Ich wußte es nicht. Aber die Freundschaft mit Patuschka erklärte den trübseligen Charakter des Wandschmucks.
    «Malt Ihr Bruder nicht auch?» fragte ich, um ein Gespräch in Gang zu bringen.
    «O ja. Seine Sachen werden sogar schon recht gut. In diesem Zimmer ist nichts von ihm, nur dort der Kopf in der Tür.»
    Sie wies auf die Tür, durch die wir eingetreten Waren. Eine der oberen Füllungen enthielt eine Porträtskizze Nataschas in öl: Kopf und Schultern, unvollendet, aber seltsam lebendig und wirkungsvoll.
    «Warum hat er das Bild dorthin gemalt?» fragte ich. «Will er das ganze Zimmer so ausschmücken?»
    «O nein. Aber die Leinwand war ihm ausgegangen. Patuschka bekam einen Tobsuchtsanfall und prügelte Fjodor beinahe die Haut vom Leib, weil er die Tür ruiniert hatte.»
    In diesem Zusammenhang mußte ich an die Rute denken, die laut Kuniang hinter dem Spiegel aufbewahrt wurde. Demnach zählte auch sie zu den charakteristischen Einrichtungsgegenständen dieses Raumes.
    Trotzdem vermittelte mir das Schulzimmer eigentlich keinen unsympathischen Eindruck von der Familie, die es bewohnte: natürliche, kluge, leichtsinnige Menschen, gleichgültig gegen alle Äußerlichkeiten und Verfeinerungen der Zivilisation, aber empfänglich für Schönheit und verständnisvoll für Kultur. Eine Sekunde lang glaubte ich fast, Signor Cante habe keine schlechte Wahl getroffen.
    Wie aber verhielt es sich mit dem Gast? Mit Elisalex?
    Sie gehörte sichtlich einem gariz anderen Typus an: einem Typus (so vermutete ich wenigstens), der sich im Lauf der Jahrhunderte nur wenig verändert hat: ewige Kurtisane, unsterbliche Circe, Magierin des hinreißenden, allzeit vernichtenden Zaubers.
    Ich ging in den Salon zurück und setzte mich in einen der Armsessel.
    Fjodor plauderte ungemein angeregt. Eine große Neuigkeit ließ ihn nicht los: Rasputin war in Petersburg ermordet worden. Fjodor erzählte, die meisten Russen in Peking seien glücklich darüber und hätten in der Kirche Kerzen angezündet, um das Ereignis zu feiern.
    «Ihnen muß das doch auch recht sein», sagte er zu Elisalex. «Jetzt, da Grigori Efimowitsch tot ist, können Sie wieder nach Hause.»
    Elisalex hatte anscheinend Hemmungen, über dieses Thema vor Fremden zu sprechen. Sie erwiderte, Rasputins Tod sei so spät gekommen, daß sie keinen Nutzen mehr davon habe; vielleicht aber würde dieses Ereignis den Sturz des Zarismus beschleunigen.
    Fjodor machte eine abfällige Bemerkung, die ich nicht verstand.
    «Glauben Sie an den Sturz des Zarismus?» fragte ich. Eine

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