Der Schneider himmlischer Hosen
las (zum hundertstenmal) das Gedicht «Die Prinzessin im Tatarenland»; es handelt von der Tochter des chinesischen Kaisers (das Wort «Tochter» heißt hier «kai»), die einen Tatarenherrscher heiratete. Aber sie friert und trauert in dem nördlichen Land und kann sich nicht an die Zelte der Tataren gewöhnen, in denen sie wohnen soll. So verbringt sie ihre Tage mit Weinen und dichtet ein Lied, das die Vögel und der Wind zu ihrem Vater tragen sollen.
Als der Kaiser von der Not seiner Tochter erfährt, läßt er ihr in dem kalten Tatarenland eine chinesische Stadt mit einem völlig eingerichteten Palast erbauen, damit sie weniger an Heimweh leide:
Da schickt er viele Kulis hin,
Schickt manchen flinken Mann,
Baut der kai eine Chinastadt
Im eis’gen Tatarenland.
Ihr Schloß ist der allerschönste Palast,
Ihr Wagen ein goldenes Haus,
Jetzt braucht sie nicht zu weinen mehr,
Drum ist das Lied auch aus.
Komm her, o Wind, und weh’ es weg,
Weh’ es über das Dach,
Weh’ es über den Mandelbaum,
Ein Vöglein singt’s dann nach.
Das Arbeitszimmer hat einen offenen Kamin, und in diesem Kamin brannte Feuer. Während der starken Kälte muß das Haus mit Öfen geheizt werden, aber gegen Ende des Winters genügt ein offenes Feuer — zudem sieht es hübsch aus.
Ich konnte die Verse auswendig und wurde allmählich schläfrig. So legte ich das Buch nieder und starrte einige Augenblicke lang ins Feuer, mit. den Gedanken ganz woanders. Und dann, obgleich ich keinen Laut gehört hatte, spürte ich plötzlich, daß ich nicht mehr allein war.
Das Arbeitszimmer nimmt die ganze Länge des Pavillons ein und besteht aus einem einzigen großen Raum, der allerdings in drei Zimmer geteilt werden kann, indem man den Mittelraum durch die beiden unvollständigen Querwände aus Sandelholz und bemalter Seide
— wie sie die meisten chinesischen Häuser besitzen — abtrennt. Wenn ich allein bin, ist das Zimmer nur durch die Leselampe und den Schein des Feuers erhellt.
Ich wandte den Kopf, um zu sehen, ob jemand eingetreten sei, ohne daß ich das Öffnen und Schließen der Tür gehört hätte, und da gewahrte ich eine reglose Gestalt, die sich nur wenige Meter entfernt von dem dunklen Schattenhintergrund abhob. Sie stand vor einer der halben Querwände, die das Zimmer teilen, wie umrahmt von der bemalten Seide im Sandelholzgestell.
Einige Sekunden lang starrte ich hin, stumm vor Staunen. War es eine Menschengestalt, die da im Schatten stand, oder eine orientalische Gottheit?
Das Gesicht schimmerte tiefviolett, nur um die Augen lagen weiße Ringe. Die Nase hatte die Form eines Geierschnabels, darunter verzog sich ein großer, geschlossener Mund zu spöttischem, hohnvollem Lächeln. Aber unter der Maske ragte ein rundliches Mädchenkinn vor, getragen von einem schlanken weißen Hals. Der Oberkörper stak in einem hellen Metallpanzer aus schimmernden Bronzeschuppen. Dieser Brustpanzer reichte bis zu den Hüften und lief in eine Spitze aus. Gelbe Hosen aus Gaze vervollständigten das Kostüm. Sie pufften sich unter der Taille, wurden aber dicht unter dem Knie und dann wieder beim Knöchel mit Bändern zusammengehalten. Arme und Schultern waren nackt, desgleichen die Beine hinter den Gazehosen.
Das Auffallendste an der Erscheinung aber war der Kopfschmuck. Von der Stirn des violetten Antlitzes ging ein goldener Heiligenschein aus, wie Flammen, die die umgebenden Schatten verdrängten. Eine Bewegung des Kopfes ließ die Flammen erzittern, und da erkannte ich, daß es Federn waren: Federn von solcher Länge, daß sie zurückfielen und fast bis zum Boden reichten; goldene Federn mit dunkelgrünen Schatten. Donald Parramoor hatte recht. Niemals noch war für die Stirn eines Königs ein schönerer Schmuck geschaffen worden. Kein Monarch besaß je eine Krone wie die Krone Montezumas.
Halb erstickt fragte eine Stimme, wie mir das Ganze gefalle. Dann trat die Erscheinung vor und nahm mit erleichtertem Aufatmen die Maske ab. Dabei löste sich die Federkrone und enthüllte Kuniangs Haar und das Muttermal von der Form des zunehmenden Mondes.
Sie ging zum Kamin und hielt den nackten Fuß vors Feuer.
«Die himmlischen Hosen sind nicht sehr warm», erläuterte sie.
«Kuniang!» rief ich. «Du bist doch nicht etwa so herübergekommen, ohne Mantel!»
«Nur durch die Höfe, von meinem Zimmer zu dir. Aber es bläst Nordwind. Greif meine Hände an.»
Und sie legte ihre eisigen Finger auf mein Handgelenk.
Ich zitierte aus
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