Der Schneider himmlischer Hosen
schätzte. Diese Berechnung erfolgte wenige Monate vor dem Tag, an dem Jeremiah zum letztenmal seinen abendlichen Cocktail in der Bar des Country-Clubs trank, woraufhin er in dem riesigen grauen Grabmal beigesetzt wurde, das er sich anläßlich der Errichtung einer ganzen Straße von Speichern am Ufer des Pai-ho hatte erbauen lassen. Grabmal wie Speicher bestanden aus Beton und waren zur selben Zeit bei derselben Firma in Auftrag gegeben worden. Oftmals erzählte Jeremiah voll Stolz, daß er auf diese Weise das Grabmal fast geschenkt bekommen habe.
Einige Monate vor seinem Tod gab Jeremiah Mettray der Welt einen neuen Beweis seines weitblickenden Scharfsinns, der so viel zum Erfolg seiner geschäftlichen Wagnisse beigetragen hatte. Er ersuchte seinen Bruder, einen pensionierten Geistlichen in Plymouth, einen Enkel auszuwählen (womöglich den fähigsten) und nach China zu schicken, um die Übernahme des Mettrayschen Besitzes in die Wege zu leiten, der in nicht allzuferner Zeit dem Erben anheimfallen würde.
Jeremiah war Junggeselle und hatte bis dahin wenig Interesse an der Nachkommenschaft seines älteren Bruders gezeigt, obgleich er ohne weiteres das eine oder andere Mitglied der jüngeren Generation hätte adoptieren können, um die Familientradition in der Firma fortzusetzen. Er zog es vielmehr vor, das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln und denjenigen seiner näheren Verwandten, mit denen er in leidlichen, wenn schon nicht herzlichen Beziehungen stand, Aktien oder Baranteile zu hinterlassen. Erst als er sein Ende herannahen fühlte, empfand er den Wunsch, einen Menschen seines Blutes um sich zu haben, wenn — wie er es ausdrückte — sein Schuldschein fällig würde.
Aber der Zufall wollte es, daß zur Zeit, da Jeremiah seinem Bruder nach Plymouth schrieb, alle jungen Männer der Familie Mettray, die dem Alter nach in Frage gekommen wären, an der Front oder im Kriegsdienst standen. Und wer nicht beim Militär diente, hatte Ämter inne, die nicht aus privaten Gründen aufgegeben werden durften. Das einzige Mitglied der Familie, das nach China kommen konnte, war ein Enkel des alten Geistlichen — ein Sohn seiner Tochter —, dessen zarte Gesundheit den Dienst fürs Vaterland unmöglich machte.
Der junge Mann hieß Paul Dysart. Jeremiah kannte ihn nicht einmal und erinnerte sich bloß, gehört zu haben, daß seine Nichte, die Tochter des Geistlichen, in eine Familie geheiratet hatte, die den Mettrays gesellschaftlich weit überlegen war. Die Zusammenarbeit mit einem vornehmen und kränklichen jungen Mann lockte den alten Kaufmann in Tientsin wenig. Aber es war zu spät, Paul Dysarts Reise nach China rückgängig zu machen; er befand sich schon unterwegs, via New York, San Francisco, Yokohama.
Jeremiah hatte oft in Peking zu tun, und so erfuhr ich, daß sein Großneffe im März 1917 ankam. Zwei Monate später, gegen Mitte Mai, brachte er den jungen Mann mit, um ihn mir vorzustellen.
Sie kamen um vier Uhr nachmittags; aus unerfindlichen Gründen war niemand in der Wohnung des K’ai-men-ti, der sie empfangen oder angemeldet hätte. Aber Jeremiah, der das Bewegungsbedürfnis chinesischer Boys und mein Haus kannte, trat ein und ging durch die Höfe bis zur Tür des Arbeitszimmers.
Ich arbeitete eben an einer Übersetzung des klassischen Romans «Der Traum der roten Kammer», da hörte ich draußen sprechen. Jeremiah sagte:
«Wenn er zu Hause ist, muß er hier sein.»
Es folgte ein Ausruf Paul Dysarts, der Ah-ting-fus Schild mit den himmlischen Hosen bemerkt hatte:
«Du lieber Gott! Warum hat er dieses Zeug über der Tür hängen?»
«Frag ihn nur selbst. Ich wundere mich schon lange nicht mehr über das, was die Leute im Osten tun, und schon gar nicht, wenn sie lang hier sind. Die alten sind alle nicht normal. Das kommt davon, weil sie Chinesisch lernen.»
In diesem Augenblick klopfte es; ich rief «Herein!» und Jeremiah erschien, gefolgt von seinem Großneffen, der weitere Fragen nach den himmlischen Hosen unterdrückte.
Ich hatte viel von Paul Dysart gehört und blickte ihn neugierig an. Er sah ganz und gar nicht leidend aus. Er war blaß, aber nicht blasser als andere Leute, die dunkles Haar und dunkle Augen haben, von großer Gestalt und hielt sich sehr gerade. Er war besser und eleganter angezogen als die meisten Ausländer in Peking. Es fiel mir auf, daß er wenig sprach und kaum jemals lächelte.
Jeremiahs Besuch erfolgte nicht nur aus Gründen der Höflichkeit. Wir
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