Der Schneider himmlischer Hosen
Ich erklärte, daß damit eine Dame gemeint ist, die vom Publikum der «Schattenbilder» — wie sie im Shen-Kwan-Theater oder im «Peking-Pavillon» zu sehen seien — besonders geschätzt werde. Ich weiß nicht, ob er nach meiner Erklärung die Frage besser verstand, jedenfalls versank er einige Sekunden lang in Schweigen. Dann äußerte er:
«Das eigene Leben ist stets das beste.»
Ich erkundigte mich, was er damit meine.
«Im Shen Kwan», erklärte er, «sieht man die Schatten des Lebens anderer Menschen. Es ist besser, das eigene Leben zu erleben.»
Danach herrschte eine Weile klägliches Schweigen; endlich kam mir ein Einfall. Ich wollte nach Elisalex fragen.
«Sagen Sie», begann ich und deutete auf Kuniang (das war ungezogen, aber ich wollte mich um jeden Preis verständlich machen), «diese Kuniang hat eine Freundin, eine russische Tai-tai, die jetzt in unserer Nähe wohnt. Die Fünf Tugenden mögen diese Tai-tai nicht. Sie wollen, daß sie Pei-ching verläßt, und haben ihr eine himmlische Vorschrift in den Tee geschüttet. Wissen Sie etwas über sie?»
Der Zauberer nickte lächelnd, um zu zeigen, daß er verstanden habe. Vermutlich war Kuniangs Verdacht richtig und die «Vorschrift» stammte von ihm. Sonderbarerweise schien er die Angelegenheit ungemein komisch zu finden, denn er lachte vor sich hin.
Dann berührte er Kuniangs Stirn mit dem Finger, beim halbmondförmigen Muttermal, und erklärte, die russische Tai-tai habe unter dem Haar das gleiche Mal. (Woher wußte er das?) Und nun sagte er etwas Sonderbares:
«Wenn Sie eine Freundin dieser Tai-tai sind, können mancherlei Dinge geschehen. Aber sie werden kein Teil Ihres Lebens sein, sondern Schattenbilder eines Lebens, das nicht das Ihre ist.»
«Das kann sehr interessant werden», meinte Kuniang.
Wang war anderer Meinung.
«Das eigene Leben ist besser», erklärte er. «Das eigene Lachen, die eigenen Tränen.»
Und dann ergriff Herr Wang die Teeschale und trank sie leer, zum Zeichen, daß sein Besuch beendet sei. Lächelnd verabschiedete er sich von Kuniang und hastete hinaus, mit einer Miene, als habe er keine Minute zu verlieren. Ich begleitete ihn bis zum zweiten Hof und stellte dabei fest, daß der Sandsturm, der schon den ganzen Nachmittag gedroht hatte, bald losbrechen würde. Die sinkende Sonne verbarg sich hinter einer großen gelblichen Wolke, und die Luft war trocken und stickig. In solchen Stunden sind die Nerven angespannt wie Saiten einer Violine.
Als ich ins Arbeitszimmer zurückkam, fand ich Kuniang noch dort; sie lag zusammengerollt auf dem Sofa, und ihre langen, schlanken Beine waren bis weit hinauf sichtbar. Sie schien in Gedanken versunken und hatte ihre Umgebung offenbar vergessen.
Ich setzte mich neben sie aufs Sofa.
«In allen ausländischen Romanen über China, die ich gelesen habe, kommt ein Wahrsager vor», begann sie. «Er verkündet geheimnisvolle Dinge, die sich noch jedes Mal erfüllen.»
«Und in allen ausländischen Romanen über China», sagte ich, «kommt ein fabelhafter Sandsturm vor, in dem die Helden beinah ersticken. Der Sandsturm muß jeden Augenblick losbrechen, und ich glaube, er wird arg werden. Und der Familienzauberer hat dir geweissagt, daß du heiraten wirst. Was willst du mehr?»
«Aber er hat gesagt, daß ich nie etwas Interessantes erleben werde, wenn ich nicht mit Elisalex in Verbindung bleibe. Und selbst dann wird sie es erleben und nicht ich.»
Ich fand, das sei auch nicht das Schlechteste, sagte aber nichts.
Einige Zeit blieben wir stumm. Im Zimmer wurde es finster. Draußen toste der Sturm durch die Höfe und winselte über den Dächern, während die Luft schwer wurde vom Sand mongolischer Wüsten.
Da kratzte es an der Tür. Onkel Podger wollte herein.
Die Krone Montezumas
Ich habe das Datum vergessen, aber der Winter neigte sich seinem Ende zu, als vom Postamt der amerikanischen Gesandtschaft die Verständigung kam, für Fräulein Renate de’Tolomei sei ein Paket eingetroffen; man würde es ihr oder jedem von ihr Bevollmächtigten ausfolgen, der es abholen wolle. Die Verständigung besagte ferner, das Paket stamme von einem Herrn Donald Parramoor.
Auf Kuniangs Bitte wurde der Tingchai abgesandt, um es in Empfang zu nehmen.
An jenem Abend speiste ich mit Bekannten in einem chinesischen Restaurant und kam erst gegen halb elf heim. Ich ging ins Arbeitszimmer und begann zu lesen. Das Buch, das ich herausgriff, war Lelands «Pidgin English Sing-Song», und ich
Weitere Kostenlose Bücher