Der Schneider himmlischer Hosen
uns, als verschwände er aus unserem Leben. Und wir sagten nicht nur ihm Lebewohl, sondern allem, Was hätte sein können.
Lange Zeit, nachdem der Zug aus dem Bahnhof gedampft und mit zunehmender Geschwindigkeit unter dem Viadukt durchgefahren war, der die Schanzen außerhalb des Hata Mên durchbricht, sprachen wir kein Wort. Unser Schweigen hatte etwas von der Ehrfurcht vor einem Toten.
Zwanzig Minuten später kamen wir nach Hause, gingen durch das Tor und wandten uns nach links, um die Ziegelmauer zu umgehen, die — wie in allen chinesischen Häusern — bösen Geistern den Eintritt wehren soll. Ich blieb eine Sekunde stehn, um die beiden Schriftzeichen anzusehen, die ähnlich dem römischen «Salve» den Ankömmling willkommen heißen. Sie lauten: Han Hsian — «Meer des Glücks». Genau so war mir zumute: das Leben lag vor mir wie ein lächelndes blaues Meer unter blauem Sommerhimmel.
Aber ich sollte mein neugewonnenes Glück nicht sogleich genießen.
Eine Woche später mußte ich nämlich verreisen, und zwar nach Shanghai. Jeremiah Mettray hatte mir seinerzeit geraten, einen Teil meines Vermögens in Grundbesitz innerhalb der französischen Konzession anzulegen. Nun schrieb er mir, ich solle verkaufen. Grundbesitz in Shanghai würde zwar kaum an Wert verlieren, aber der Silberdollar stehe ungewöhnlich hoch. Ob ich daher nicht lieber verkaufen und den Erlös anderweitig anlegen wolle? Jeremiah konnte mir keine eindeutigen Tips gegen, meinte aber, ich 9olle mich selbst Umsehen. Es sei der Mühe wert, nach Shanghai zu fahren, tun die Sache an Ort und Stelle durchzusprechen.
Das unverändert freundschaftliche Interesse des alten Mannes zu einer Zeit, da er wahrlich ernstere Sorgen hatte, rührte mich. Und nach kurzem Zögern beschloß ich, seinem Rat zu folgen. Aber es war schwer, Kuniang zu verlassen.
Wäre sie alt und häßlich gewesen, ich hätte sie als Sekretärin mitnehmen können. Aber sie war weder alt noch häßlich. Jugend und Schönheit machen das Leben lebenswert, aber auch schwer.
Inzwischen wurde Kuniang von den Russen, die in Shan-hai-kwan einen Bungalow gemietet hatten, aufgefordert, den Sommer bei ihnen zu verbringen. Das bedeutete Seeluft und Seebad. Ich fragte Kuniang, ob sie ein paar Wochen, vielleicht sogar Monate die russische Wirtschaft aushalten könne, und sie bejahte. Es hatte sich manches geändert seit damals, als sie von Matuschka wegen der umgeworfenen Spinnengläser verhauen worden war.
«Nicht einmal Fjodor und Natascha kriegen mehr Haue, seit es in Rußland Revolution gibt.»
«Was hat das mit der Revolution zu tun?»
«Nun, heute finden Fjodor Und Natascha eben, sie seien genauso viel wie die Eltern, wenn nicht mehr.»
«Und wirst du Fjodor bändigen können?»
«Aber natürlich. Mühelos. Jetzt habe ich doch gar keine Angst mehr vor ihm — seit ich weiß, daß du mich lieb hast.»
Ich verstand dieses Argument zwar nicht, aber da Kuniang Matuschkas Einladung annehmen wollte, mußte es wohl richtig sein.
Der Verkauf des Shanghaier Besitzes erforderte weit mehr Zeit, als ich gedacht hatte. Ich mußte fast den ganzen Sommer dort bleiben. Und in diesen Monaten geschah es, daß der alte Jeremiah in Pei-ta-ho plötzlich an Herzschlag starb.
Trotz Alter und zunehmender Kränklichkeit wollte er das tägliche Bad im Meer nicht aufgeben. Eines Tages geriet er in die rückströmende Ebbe und vermochte nur mit großer Anstrengung wieder an Land zu kommen. Als er aus dem Wasser stieg, um über den Sand zu seinen Kleidern zu gelangen, sahen die Leute, die den Strand bevölkerten, daß er plötzlich taumelte und um sich griff wie ein Blinder. Sie liefen herbei, um ihm zu helfen, aber unter ihren Händen sank er zusammen. Seine letzten Worte, zwischen keuchenden Atemzügen hervorgestoßen, waren:
«Jetzt kommt Paul Dysart dran.»
Ich versicherte Paul meiner herzlichen Anteilnahme und schrieb ihm, daß ich als alter Freund seines Großonkels mit Freuden bereit sei, für ihn zu tun, was ich könne, sollte er jemals während seines Aufenthaltes in China Rat und Hilfe brauchen.
Nach zehn Tagen kam die Antwort. Paul dankte mir und fügte hinzu, der Onkel habe ihm eine Million mexikanischer Dollar hinterlassen. «Ich bin dem alten Herrn für sein liebevolles Gedenken herzlich dankbar. Aber von diesem Geld werde ich wohl nicht allzuviel haben, wenn ich nicht einen Teil dem mongolischen Abt überlasse, damit er mich träumen läßt.»
Kaum hatte ich meine Geschäfte in
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