und in einer Nacht kann man vielleicht ein ganzes Leben träumen. Aber das ist ja gar nicht notwendig. Paul hat noch viele Monate vor sich. Er soll sie verbringen, indem er von dir träumt. Wer weiß, ob eine Traumgestalt für einen. Kranken nicht besser ist als eine wirkliche Frau.»
«Wie in
?»
«Jawohl. Wie in .»
«Vielleicht hast du recht», meinte Kuniang. «Wenn er von mir träumen kann, wird er sich nicht so einsam fühlen. Und zuletzt könnte ich ihn pflegen.»
Sie blieb ein paar Sekunden lang still, dann fügte sie hinzu:
«Du darfst aber nicht glauben, daß ich mich nur um Paul kränke.. Es war so schön, geliebt zu werden.»
Ich sah sie an, ohne zu antworten. Dann stand ich auf, ging ins Arbeitszimmer und drehte beim Eintreten das Licht auf. Aus einer Schreibtischlade holte ich eine kleine Bronzedose hervor; auf dem Deckel waren chinesische Schriftzeichen eingraviert. Sie enthielt meine Hälfte des Kristallsiegels.
Dann ging ich zu Kuniang zurück. Sie saß noch dort, wo ich sie verlassen hatte, und starrte die Büsche an, unter denen jemand scharrte. Onkel Podger hatte etwas Interessantes entdeckt.
Ich setzte mich wieder auf die Decke, und als Kuniang sich mir zuwandte, reichte ich ihr die Dose. Sie öffnete den Deckel, und im Mondlicht schimmerte der Kristall.
«Was ist das?» fragte sie; es kam mir vor, als zitterte ihre Stimme.
«Du weißt doch, was das ist und was es bedeutet!»
«Du brauchst Hilfe?»
«Ich brauche dich.»
«Mich?»
«Ja. Ich brauche dich, und zwar notwendiger als Paul, denn ich bin nicht krank. Ich bin nicht einmal alt, obgleich es dir vielleicht so Vorkommen mag.»
«Wie alt bist du?»
Eine sonderbare Frage in diesem Augenblick. Aber Kuniang war ein bißchen verwirrt. Ich antwortete auf chinesisch:
«Erhabene Gebieterin, ich habe vierunddreißig Lenze vergeudet.»
«Und du brauchst mich wirklich?»
«Ich kann nicht leben ohne dich.»
«Warum hast du mir das nicht früher gesagt?»
«Weil ich es für unfair hielt. Du bist sehr jung und hättest glauben können, daß du mir irgendwie verpflichtet bist. Aber jetzt ist es mir gleichgültig, wie jung du bist und was du denkst. Ich brauche dich. Ich gebe dir das Erkennungszeichen. Willst du mir helfen?»
Die Nacht hatte im Schatten einer Tragödie begonnen und setzte sich in einer Stimmung reinster Romantik fort. Enden sollte sie mit einer Farce. Denn unter den Goldregenbüschen an der nördlichen Gartenmauer entstand plötzlich fürchterlicher Lärm. Onkel Podger war anscheinend mit einem Katzenpärchen zusammengestoßen, das in der Finsternis auf Liebespfaden wandelte. Denn plötzlich erschien er, jämmerlich heulend, im Mondlicht, um in der Richtung auf die Höfe schleunigst wieder zu verschwinden.
Kuniang und ich starrten erst den Flüchtling an, dann einander und begannen zu lachen.
Was Kuniang geantwortet hätte, wären wir nicht unterbrochen worden — ich weiß es nicht. Aber als sie sich sattgelacht hatte, hob sie das Gesicht, sah mich an und wiederholte die abgebrauchte Wendung, mit der die Fünf Tugenden meine Befehle beantworteten: «Jawohl, Herr. Wird besorgt.»
Intermezzo
«Lärm ist auf dem Marktplatz nicht,
Noch Stille in den Bergen...»
Und wieder zog der Friede ein im Heim der Fünf Tugenden, denn ich wußte, daß ich Kuniang nicht mehr verlieren würde. Aber Paul gegenüber drückte uns das Gewissen, obgleich weder sie noch ich ihm Böses zugefügt oder gewünscht hatte. Wäre er ein gesunder Mensch gewesen, Kuniang hätte ihn mir vielleicht vorgezogen. Andererseits aber: wäre er ein gesunder Mensch gewesen, hätte er nie den Boden Chinas betreten. Seine Krankheit stand nicht nur einer Eheschließung im Wege, sondern sogar Kuniangs Neigung, Kaum hatte sie sich verliebt, trat schon der Umschwung ein. Und das kurze Liebesabenteuer mit Paul warf sie in meine Arme. Aber wir schämten uns. Unser künftiges Glück beruhte auf dem Unglück eines anderen. Zumindest für mich galt der Spruch: Mors tua, vita mea.
Als Paul nach Tientsin zurückfuhr, begleiteten ihn Kuniang und ich zur Bahn. Wir sahen zu, wie er sich in seinem Abteil installierte, und plauderten mit ihm durch das Drahtnetz, mit dem die Fenster des Peking-Mukden-Expreß zum Schutz vor Fliegen vergittert sind. Wir trugen ihm die üblichen Grüße auf, für Jeremiah und andere Tientsiner Bekannte. Aber sie klangen irgendwie falsch. Obwohl wir wußten, daß wir Paul wiedersehen würden, war es