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Der Schneider himmlischer Hosen

Der Schneider himmlischer Hosen

Titel: Der Schneider himmlischer Hosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniele Varè
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mich ihm hätte geben müssen, ohne erst seine Bitte abzuwarten, denn vielleicht hätte er sie gar nicht gewagt. Und ich hätte es sofort tun müssen, weil keine Zeit mehr zu verlieren ist. Ich hätte über den Hof gehen müssen, so wie ich war, und ihn in seinem Zimmer aufsuchen. Ich malte mir aus, daß er im Lehnsessel säße, so wie du damals, als ich dich mit der Krone Montezumas besuchte. Er würde sich umdrehen und mich ansehen, so wie du mich damals angesehen hast.»
    «Nun, Kuniang», fragte ich, «und bist du zu ihm gegangen?»
    «Nein. Eben nicht. Und deshalb kann ich nicht schlafen.»
    Ich hätte gar vieles sagen können, aber ich fürchtete, den Strom ihres Vertrauens zu hemmen. Anscheinend sehnte sie sich danach, ihr Herz zu erleichtern. Ich hielt es für besser, sie nicht zu unterbrechen. Bald setzte sie fort:
    «Ich weiß, daß man mir keinen Vorwurf daraus machen kann, wenn ich meine Ehre und Unschuld behalten will. Aber hätte ich ihn wirklich geliebt, wäre mir so etwas niemals eingefallen. Wie jene Mädchen in Europa hätte ich einem Mann, der Schmerzen und dem Tod ins Auge sieht, nichts verweigern können. Es wäre beinahe eine Pflicht gewesen, zu ihm zu gehen, vor allem für jemanden wie mich.»
    «Warum gerade für jemanden wie dich?»
    «Weil ich eigentlich allein in der Welt stehe. Was liegt dran, was
    ich tue?»
    «Du hast einen Vater, Kuniang», wandte ich ein.
    «Gewiß. Der arme Vater! Aber seit ich klein war, wohne ich nicht mehr bei ihm. Er kommt nach Peking, um mich zu besuchen, und dann sagt er mir Lebewohl und fährt wieder weg. Und bei jedem Abschied weiß ich genauso gut wie er, daß es vielleicht der letzte ist. Er hat mir gesagt, daß er damit rechnet, eines schönen Tages auf der Strecke ermordet zu werden. Und ich sehne mich so sehr nach Liebe und Herzlichkeit. Aber ringsum gibt es nur Tod und Todesgefahr.»
    Kuniang rückte dichter an mich heran, als suche sie Schutz.
    «Und das ist der eigentliche Grund», sagte sie, «warum ich mich Paul nicht geben kann. Es ist abscheulich von mir, ihn einfach über Bord zu werfen, bloß weil er krank ist. Wäre er Soldat und müßte er an die Front, ich würde die Minuten zählen, die ich mit ihm verbringen kann. Aber ich verabscheue Krankheiten. Seit ich daran gedacht habe, zu ihm zu gehen, quält mich das Gefühl, im Lehnsessel seines Zimmers warte ein Skelett auf mich. Wenn ich hinüberginge
    — ich glaube, nicht Pauls Gesicht würde mich ansehen, sondern ein Schädel mit leeren Augenhöhlen und fürchterlich gefletschten Zähnen. Nicht Paul wäre es, der aufstünde, um mich zu begrüßen, sondern ein Toter, der aus dem Grab aufersteht. Grauenhafte Arme, Knochen, die noch nicht ganz entblößt sind, würden sich ausstrecken, um mich zu umfangen, und kalte, steife Finger meine Haut berühren.»
    Kuniang bedeckte das Gesicht mit den Händen und schmiegte sich an mich; ihr Körper zitterte.
    «Und doch liebt mich Paul», sagte sie. «Und ein paar kurze Tage lang habe auch ich ihn geliebt. Wie kann man so schlecht sein? Was soll ich tun?»
    Nun wußte ich, was Kuniang fehlte. Ihre aufkeimende Liebe hatte gar nicht erst Wurzel zu fassen vermocht, sondern wurde zurückgeschlagen, im Keim erstickt durch die Erkenntnis, daß Paul nicht der war, der er schien, ein gesunder, normaler junger Mann. Der plötzliche Schrecken vernichtete das natürliche Gefühl, mit dem ein liebebedürftiges Wesen die Leidenschaft beantwortete, die es hervorrief. Vielleicht hätte der Schlag weniger heftig gewirkt, wäre das Entsetzen über die Gemeinschaft mit einem Schwerkranken nicht noch durch die Idee der Selbstaufopferung verstärkt worden. Das Bemühen, moralische Hemmungen zu überwinden, um den Mann, der sie liebte, glücklich zu machen, verriet die Großzügigkeit, war aber nicht minder die Folge einer allzu einsam verbrachten Kindheit. Denn aus alter Gewohnheit hielt sich Kuniang noch immer für alleinstehend, für schütz- und verantwortungslos. Sie glaubte sich berechtigt, ihren Körper zu verschenken, weil sie nichts anderes zu verschenken hatte; und mangelnde Keuschheit erschien ihr weniger beschämend als mangelnde Güte. Aber es war bedeutsam, daß sie sich mir anvertraute. Und meine Liebe half mir, sie zu verstehen.
    «Es gibt nur eines, was du tun kannst, Kuniang», rief ich. «Du mußt Paul ermutigen, seinen Plan auszuführen. Er soll den Abt bitten, von dir träumen zu dürfen, von einem Leben mit dir. Die Zeit hat keine Grenzen für den Traum,

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