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Der Schneider himmlischer Hosen

Der Schneider himmlischer Hosen

Titel: Der Schneider himmlischer Hosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniele Varè
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gedacht. Sonderbar, wie ich alles vergesse. Ist immer noch Krieg?»
    «Gewiß. Sie wußten es ja, als wir uns in Tientsin trafen.»
    «Mir ist, als wären Jahre seither vergangen. Das sind wohl die Jahre meines Traumes.»
    Offensichtlich hatte von Pauls doppelter Persönlichkeit jetzt das mongolische Ich die Oberhand, obgleich es nur aus dem Stoff bestand, aus dem eben Träume bestehen. Ich fragte:
    «Wo sind Sie jetzt? Noch immer in Petersburg?»
    «Nein. Ich bin Gouverneur einer östlichen Provinz und lebe an einem Ort, der heißt, obgleich er nicht wesentlich befestigt ist. Bloß ein paar Barrikaden und Wachttürme stehen in den Wäldern ringsum.. Ich bewohne ein wunderschönes Haus, das der Herrensitz eines großen Gutshofes sein könnte, wären nicht ein Wachtzimmer angebaut, ein paar Baracken und ein Gefängnis. Je weniger man von diesem Gefängnis spricht, desto besser.»
    «Wo liegt das Ganze? In Sibirien?»
    «Das weiß ich nicht. Jedenfalls könnte es recht gut ein Verbannungsort sein. Eine Menge Leute wohnen dort,, die nicht weg dürfen: gutaussehende Männer und schöne Frauen, deren Kleider aus Paris stammen, obwohl sie nicht mehr modern sind. Die Leute leben in sehr schäbigen Häusern, werden aber nicht im mindesten belästigt, solange sie keinen Anlaß dazu geben. Unternehmen sie aber Fluchtversuche und werden dabei erwischt, dann kommen sie ins Gefängnis. Und das Gefängnis verlassen sie nur selten lebendig.»
    «Das also ist Ihr Traumleben! Sind Sie mit ihm zufrieden?»
    «Ist man je mit seinem Leben zufrieden, sei es wirklich oder geträumt? Hätte man mich doch nicht von Kuniang getrennt — obgleich der Abt behauptet, daß sie bald wiederkommen wird.»
    Paul legte sich unter die Pelzdecken zurück und schloß die Augen. Das Sprechen hatte ihn ermüdet. Ich wollte ihn nicht stören und verließ mit Kuniang das Zimmer. Wir gingen in einen kleinen Hof vor dem Pavillon, den sie für sich bestimmt hatte. Sie zeigte mir ein paar Töpfe mit blühenden Chrysanthemen.
    «Diese Blumen», sagte sie, «sind wohl das richtige für ein Haus, in dem ein Todkranker liegt. Ob Paul noch hier sein wird, um den Flieder im Frühling blühen zu sehen?»
     
     
     

2
     
    Ich kam nur selten in den Palast des Herzogs Lan, aber Kuniang besuchte mich fast jeden Vormittag und kehrte erst nach dem Mittagessen wieder zurück. Sie berichtete, daß Paul schwächer werde. Die Anstrengung des Doppellebens zehre an ihm, die hypnotischen Seancen verschlängen seinen geringen Kräftevorrat. Die Träume seien weniger erfreulich und beschwichtigten ihn nicht mehr. Er schlief unruhig, selbst unter dem Einfluß von Opium, und beschäftigte sich auch im Wachen nur mit dem anderen Leben. Sein wirkliches Ich verschwand allmählich, wie Dr. Jekyll in der Persönlichkeit des Mr. Hyde.
    Kuniang war blaß und bekümmert. Vielleicht überstieg die Aufgäbe, einen hoffnungslos Kranken zu pflegen, ihre Kräfte; ich bekam Angst, obgleich sie mir versicherte, daß Paul wenig Mühe mache. «Sonderbarerweise», sagte sie, «ist sein Traumleben von dem Augenblick an unglücklich geworden, da ich wieder darin vorkam. Schmerzliche Dinge gehen vor, aber Paul will mir nicht sagen, was. Er leidet darunter, mehr noch als unter der Krankheit. Und trotzdem will er auf den Traum um keinen Preis verzichten. Gestern wachte er auf und bat den Abt, fortzufahren, und sie blieben die ganze Nacht beisammen. Heute früh ruhte er ein paar Stunden, aber sie wollten wieder beginnen, sobald ich gegangen wäre. Ich möchte so gern, daß der Traum ein Ende nimmt. Ich kann den Grund nicht herausbekommen, aber ich spüre, daß Paul entsetzlich darunter leidet.»
    Ich erinnerte mich daran, was mir Paul in Tientsin von dem unerwarteten Realismus des Traumdaseins, das ihn der Abt erleben ließ, erzählt hatte. Anscheinend machte er jetzt etwas Schweres durch. Was konnte es sein? Und wie kam es, daß er aus diesem schmerzlichen Traum nicht erwachte, wie es meistens der Fall ist, wenn der Alpdruck einen Höhepunkt erreicht?
    «Arme Kuniang», sagte ich, «mit einem Sterbenden und seinen Halluzinationen allein zu sein! Heute muß ich leider etwas fertigmachen. Aber morgen, nach deinem Besuch bei mir, begleite ich dich in den Palast des Herzogs Lan. Ich werde gleichfalls ein Feldbett hinschaffen lassen, damit ich nicht gezwungen bin, zu Hause zu übernachten.»
    Kuniangs Gesicht leuchtete bei diesem Vorschlag auf, und als sie zu Paul zurückkehrte, schien sie nicht

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