Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
Vom Netzwerk:
was Onkel Benny Gewalt genannt hatte. Und jeden Schrei, der ihm erst einmal in der Kehle steckengeblieben war, ehe er endlich herauskam. Mit einem Schwarm von Gestalten, die mangels genauerer Bestimmung alle unter dem Namen Harry Pendel auftraten, offenbarte sich ihm uneingeladen ein ganzes Leben voll enttäuschter Wut.
    Und es weckte ihn wie ein Hornsignal, kurierte und attackierte ihn mit einem gewaltigen Fanfarenstoß und rief die anderen Gefühle Pendels zur Fahne. Liebe, Angst, Empörung und Rachgier gehörten zu den ersten Freiwilligen. Es fegte die armselige Mauer beiseite, die in Pendels Seele zwischen Wahrheit und Dichtung gestanden hatte. Es sagte »Genug!« und »Attacke!« und duldete keine Deserteure. Aber was galt es anzugreifen? Und womit?
    Wir wollen Ihren Freund kaufen , sagt Osnard. Und wenn das nicht geht , schicken wir ihn ins Gefängnis zurück . Schon mal im Gefängnis gewesen , Pendel?
    Ja. Und Mickie auch. Und ich habe ihn dort gesehen. Und er hatte kaum Puste, um Hallo zu sagen.
    Wir wollen Ihre Frau kaufen , sagt Osnard. Und wenn das nicht geht , schmeißen wir sie und Ihre Kinder auf die Straße . Schon mal auf der Straße gewesen , Pendel?
    Ich komme von da.
    Und diese Drohungen waren keine Träume, sondern Pistolen. Die ihm Osnard an den Kopf hielt. Na schön, Pendel hatte ihn belogen, falls »lügen« das richtige Wort war. Er hatte Osnard erzählt, was er hören wollte, und er hatte sich enorm angestrengt, es ihm zu beschaffen, und sich unter anderem auch einiges ausgedacht. Manche Leute logen, weil sie das Lügen erregend fanden, weil sie sich dann mutiger und klüger vorkamen als all die demütigen Anpasser, die auf dem Bauch krochen und die Wahrheit sagten. Nicht so Pendel. Pendel log, eben weil er sich anpassen wollte. Weil er immer das Richtige sagen wollte, auch wenn das Richtige und die Wahrheit weit auseinander lagen. Weil er sich vom Druck mitreißen lassen wollte, bis er abspringen und nach Hause gehen konnte.
    Nur daß es bei Osnards Druck nicht möglich war abzuspringen.
     
    Mit sich selbst hadernd, ging Pendel die üblichen Punkte durch. Als geübter Selbstankläger raufte er sich die Haare und rief Gott zum Zeugen seiner Zerknirschung an. Ich bin ruiniert! Verurteilt! Ich bin wieder im Gefängnis! Das ganze Leben ist ein Gefängnis! Es spielt keine Rolle, ob ich drinnen oder draußen bin! Und ich habe mir das alles selbst zuzuschreiben! Aber sein Zorn verrauchte nicht. Louisas Kooperativem Christentum aus dem Weg gehend, nahm er Zuflucht zu der furchtsamen Sprache von Bennys vage erinnerten Bußgebeten, wie er sie im Wink & Nod in seinen leeren Bierkrug gemurmelt hatte: Wir haben Schaden , Verderben und Ruin verursacht … Wir sind schuldig , wir haben Verrat geübt … Wir haben geraubt , wir haben verleumdet … Wir haben gefälscht , wir haben in die Irre geführt … Wir haben betrogen … Wir haben uns von der Wahrheit losgesagt , die Wirklichkeit existiert nur zu unserer Unterhaltung . Wir verstecken uns hinter Zerstreuungen und Spielzeug . Die Wut wollte immer noch nicht weichen. Sie begleitete Pendel überall hin, wie eine Katze in einer schwachen Pantomime. Und als er sich an eine gnadenlose historische Analyse seines verabscheuungswürdigen Verhaltens von Anbeginn der Zeiten bis zum heutigen Tage machte, nahm ihm die Wut das Schwert von der Brust und richtete es nach außen auf die, die seine Menschlichkeit pervertierten.
     
    Am Anfang war das Harte Wort, dachte er. Andy hat es gebraucht, als er in meinen Laden geplatzt ist, und es hat einen Druck ausgeübt, dem ich nichts entgegensetzen konnte, weder damals, als es um die Sommerkleider ging, noch einem gewissen Arthur Braithwaite gegenüber, der Louisa und den Kindern als Gott bekannt ist. Sicher, genaugenommen existierte Braithwaite gar nicht. Wozu auch? Nicht jeder Gott muß existieren, um seine Aufgabe zu erfüllen.
    Ergebnis all dessen war, daß ich mich als Horchposten verdingt habe. Also habe ich gehorcht. Und ein paar Dinge gehört. Und was ich nicht direkt gehört habe, habe ich im Kopf gehört; bei dem Druck, dem ich ausgesetzt war, war das doch nur natürlich. Ich arbeite im dienstleistenden Gewerbe, also habe ich Dienste geleistet. Was soll daran falsch sein? Und dann ist eingetreten, was ich eine gewisse Blütezeit nennen würde; ich habe wesentlich mehr und auch besser gehört, denn soviel habe ich vom Spionieren inzwischen begriffen: es ist ein Handwerk, es ist wie Sex, wenn es nicht immer besser

Weitere Kostenlose Bücher