Der Schneider
eine Kooperative Christliche Gruppe, der sie aus Treue zu ihrer verstorbenen Mutter angehört – all das interessiert ihn plötzlich sehr, ihn und sein Schneider-Notizbuch, in dem er das alles in einem unergründlichen selbsterfundenen Kode verzeichnet, einer Mischung aus Abkürzungen, Initialen und absichtlich schlechter Handschrift, die sich nur dem geübten Auge erschließt. Denn von ihr selbst unbemerkt, ist Louisas Leben jetzt untrennbar mit dem Mickies verflochten. In Pendels Kopf, sonst freilich nirgendwo, sind Frau und Freund schicksalhaft verbunden, während die Stille Opposition ihre geheimen Grenzen weiter vorschiebt und systemkritische Studenten, christliches Bewußtsein und sympathisierende Panamaer von der anderen Seite der Brücke zu sich heranzieht. Eine Gruppe ehemaliger Zonenbewohner formiert sich unter größter Geheimhaltung, man trifft sich zu zweit oder dritt nach Einbruch der Dunkelheit in Balboa.
Wenn sie getrennt sind, ist Pendel ihr nie so nahe gewesen, und nie so entfremdet, wenn sie zusammen sind. Manchmal erschreckt ihn sein Gefühl der Überlegenheit ihr gegenüber, bis er darin etwas ganz Natürliches erkennt, denn er weiß so viel mehr über ihr Leben als sie selbst und ist ja tatsächlich der einzige Beobachter ihrer anderen magischen Rolle als unerschrockene Geheimagentin mitten im feindlichen Hauptquartier, die auf die Ungeheure Verschwörung angesetzt ist, zu der die Stille Opposition mit ihrem Netzwerk aufopferungsvoller Agenten den Schlüssel hält.
Gewiß, manchmal läßt Pendel die Maske fallen, und die künstlerische Eitelkeit geht mit ihm durch. Er sagt sich, daß er Louisa einen Gefallen tut, wenn er alles, was sie tut, mit dem Zauberstab seiner heimlichen Kreativität berührt. Er rettet sie. Nimmt ihre Last auf sich. Schützt sie physisch und moralisch vor Betrug und all seinen furchtbaren Folgen. Bewahrt sie vor dem Gefängnis. Erspart ihr die tägliche Schinderei vielschichtigen Denkens. Läßt ihre Gedanken und Handlungen sich frei zu einem gemeinschaftlichen, heilsamen Leben zusammenschließen, statt sich in einzelnen verriegelten Kammern wie der seinen abzuschuften und allenfalls im Flüsterton miteinander zu reden. Doch hat er die Maske wieder zurechtgerückt, sieht er in ihr einmal mehr seine unerschrockene Agentin, seine Waffengefährtin im verzweifelten Kampf für die Erhaltung der Zivilisation, wie wir sie kennen, notfalls unter Anwendung ungesetzlicher, um nicht zu sagen unsauberer Mittel.
Gepackt vom überwältigenden Gefühl des Dankes, den er Louisa schuldet, bringt Pendel sie dazu, sich von Delgado für einen Tag beurlauben zu lassen, und unternimmt mit ihr ein frühmorgendliches Picknick: nur wir zwei, Lou, ganz allein, wie damals vor den Kindern. Er bittet die Oakleys, die Kinder zur Schule zu bringen, und fährt mit ihr nach Gamboa, zu einem Hügel namens Plantation Loop, den sie früher, als sie noch in Calidonia lebten, oft und gern besucht hatten; die Straße, eine gewundene Schotterpiste der amerikanischen Armee, führt durch dichten Wald auf einen Bergrücken, der ein Teil der Kontinentalscheide zwischen Atlantik und Pazifik ist. Das Symbolhafte seiner Wahl entgeht ihm nicht: wir, die Hüter des Isthmus, die Schutzengel des kleinen Panama. Es ist ein unirdisches, wechselvolles Fleckchen Erde, gezaust von widrigen Winden und näher dem Garten Eden als dem einundzwanzigsten Jahrhundert, trotz der schmutzigen, zwanzig Meter hohen cremefarbenen Kugelkopfantenne, derentwegen die Straße damals gebaut worden ist: Ursprünglich dort aufgestellt, um Chinesen, Russen, Japaner, Nicaraguaner und Kolumbianer abzuhören, ist die Antenne jetzt offiziell für taub erklärt worden – was freilich nicht bedeutet, daß sie, aus einem überlebenden Instinkt für Intrigen, ihr Gehör nicht reaktivieren könnte, wenn zwei englische Spione zu ihr kommen, die nach der Mühsal täglicher Aufopferung ein wenig Trost brauchen.
Am farblosen, unbewegten Himmel über ihnen kreisen Schwärme von Geiern und Adlern. Durch eine Lücke zwischen den Bäumen blicken sie in ein Tal mit grünen Hängen, das sich bis zur Bucht von Panama hinzieht. Es ist erst acht Uhr morgens, dennoch sind sie schweißüberströmt, als sie zum Geländewagen zurückgehen, um sich an Eistee aus der Thermoskanne und Hackfleischpasteten gütlich zu tun, die Pendel am Abend zuvor zubereitet hat, weil Louisa sie so gerne mag.
»Besser kann das Leben nicht sein, Lou«, versichert er tapfer, als sie
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