Der Schock: Psychothriller (German Edition)
nur niemand. Er war schon immer gut darin, sich zu verstecken.«
»Sie sagten gerade, seine Mutter hätte darauf bestanden? Haben Sie seine Eltern kennengelernt?«
Ava Bjely schüttelte den Kopf. »Als ich ihn das erste Mal zu Hause besuchte, waren seine Eltern bereits tot.«
»Zu Hause?« Plötzlich war Jan hellwach. »Sie meinen das Haus, in dem er aufgewachsen ist?«
»Sein Elternhaus, ja.«
Jan spürte ein Ziehen am ganzen Körper. Er dachte an Maria Hülscher, die vor Jahrzehnten vermutlich genau vor der Tür dieses Hauses gestanden hatte. »Gibt es das Haus noch?«
Ava Bjely sah ihn an. Offenbar war ihr gerade derselbe Gedanke gekommen. »Sie meinen, er bringt Laura dorthin?«
»Wohin sonst?«, fragte Jan.
»Sie ahnen ja nicht, wie viele Immobilien meine Familie besitzt.«
»Hier? In Berlin?«
»Nein«, gab Ava Bjely zu. »Die meisten sind in Wien. Aber er verwaltet sie.«
»Er muss sich sicher fühlen«, sagte Jan. »Er braucht das Gefühl, alles im Griff zu haben. Für das, was er mit Laura vorhat, braucht er eine Umgebung, die mehr ist als nur irgendein Haus.«
Ava Bjely sah ihn an. Ihr Blick wanderte über Jans verbundene Hand, die Fleecedecke und blieb an der geschwollenen roten Linie an seinem Hals hängen. Schließlich nickte sie, als hätte sie eine Entscheidung getroffen. »Ich zeige Ihnen den Weg. Helfen Sie mir in den Wagen.«
Jan schüttelte den Kopf. »Wir rufen die Polizei. Die sind schneller da.«
Ava Bjely lächelte schief. »Keine Polizei.«
»Bitte?« Jan sah sie ungläubig an.
Ava Bjely legte ihre Hand auf den Revolver. »Keine Polizei.«
»Wenn Sie die Polizei nicht rufen wollen, meinetwegen. Ich tue es!«
»Das hilft Ihnen nichts. Sie brauchen die Adresse. Und die bekommen Sie nicht ohne mich.«
Jan starrte sie an. »Hier geht’s um Ihre Tochter, verdammt. Ist Ihnen das klar? Noch vor ein paar Stunden haben Sie mich losgeschickt und wollten, dass ich Laura helfe.«
»Das will ich immer noch«, sagte Ava Bjely mit eisiger Kälte. »Aber ohne Polizei.«
»Warum? Was haben Sie zu verbergen?«
Ava Bjely schwieg und wich seinem Blick aus.
Jan ballte die Fäuste. Er wusste, dass er keine weitere Zeit verspielen durfte. »Also gut«, sagte er grimmig.
Kapitel 51
Berlin, 22. Oktober, 02:56 Uhr
Jan riss die Beifahrertür des Cherokee auf, griff Ava Bjely unter die Arme und hob sie aus dem Rollstuhl.
Ihre Finger umschlossen fest den Revolver. Jan spürte die Waffe an seinem Bauch, als er sie auf den Beifahrersitz hievte, und hoffte inständig, dass sie gesichert war.
»Wo lang?«, fragte er, als er hinter dem Steuer saß.
»Geradeaus, dann die zweite rechts, auf die Clayallee«, sagte Ava Bjely.
Jan trat aufs Gas. Der Cherokee dröhnte und schoss vorwärts. Der verbrannte Geruch, der ihm immer noch am Körper haftete, füllte den Innenraum des Wagens. Kurz vor der Clayallee bremste er scharf, schlug das Lenkrad ein und bog mit quietschenden Reifen auf die Allee. Ava Bjely hielt den Revolver immer noch fest umschlossen und starrte durch die Windschutzscheibe nach draußen.
»Was ist später passiert?«, fragte Jan und bog auf die Allee ab.
»Nach der Vergewaltigung, meinen Sie?«
Jan nickte.
»Mein Bruder hat mich gefunden. Ich war bewusstlos. Und er hatte ein Problem.«
»Wie meinen Sie das?«
»Eine Party ohne Erlaubnis der Eltern, die Villa sah aus wie ein Schweinestall, und dann liegt auch noch seine blöde Schwester halbtot im Elternschlafzimmer, nackt, mit Würgespuren am Hals, während im Erdgeschoss die letzten Gäste die Zigaretten auf dem Parkett austreten. Nicht gerade die Situation, in der man den Notarzt oder die Polizei ruft.«
»Soll das heißen, er hat keine Hilfe geholt?«
Ava Bjely schaute nach vorn auf die Straße. »Er hat mich aufs Doppelbett gelegt und versucht, mich wach zu kriegen. Irgendwann hat er es auch geschafft. Ich konnte mich kaum bewegen vor Schmerzen und hatte das Gefühl, mein Rücken bricht durch – später hat sich herausgestellt, dass ich mir beim Sturz auf die Bettkante einen Rückenwirbel angeknackst hatte. Ich habe Buck angeschrien, er solle unsere Eltern anrufen. Dann habe ich gebettelt, und irgendwann gedroht. Schließlich hat er kapituliert. Meine Eltern kamen sofort aus London zurück. Sie können sich vorstellen, was es für ein Theater gegeben hat.«
»Wegen der Vergewaltigung?«
»Um Gottes willen, nein. Die Vergewaltigung habe ich verschwiegen. Ich wollte nicht darüber reden. Am allerwenigsten mit meinen
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