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Der Schock: Psychothriller (German Edition)

Der Schock: Psychothriller (German Edition)

Titel: Der Schock: Psychothriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Raabe
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streckte die Hand nach dem Brief aus. Jan reichte ihn ihr.
    »Berliner Gaswerke?« Sie sah vom Umschlag auf.
    Er lächelte entschuldigend.
    »Alles in Ordnung, Frau Bjely?« Hinter der Frau im Rollstuhl tauchte eine etwa sechzigjährige kleingewachsene Frau auf, mit kurzen Haaren, erstaunlich breiten Schultern, gekleidet mit einer weißen groben Bluse und einer grauen Cargohose, die nicht so recht ins Bild passen wollte.
    »Ist gut, Fanny, danke. Ich mach das selbst.«
    Die Frau nickte und verschwand.
    Ava Bjelys Blick ruhte immer noch auf Jan. »Was wollen Sie?«
    »Ich suche Ihre Tochter Laura. Sie ist verschwunden, seit vorgestern Nacht –«
    »Ich nicht«, sagte Ava Bjely brüsk.
    »Bitte?«
    »Mag sein, dass Sie meine Tochter suchen. Ich nicht.«
    Jan sah sie perplex an.
    Ava Bjely seufzte wie jemand, der gezwungen ist, einen allzu offensichtlichen Umstand zu erklären. »Junger Mann, ich bin krank genug. Und ich sehe keinen Grund, meine Kraft an weitere Krankheiten zu verschwenden. Denn genau das ist meine Tochter – eine Krankheit.«
    Jan blieb der Mund offen stehen. »Eine Krankheit?« Er spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Mit einem Mal war er wieder der kleine Junge, der am offenen Fenster steht, während seine Mutter mit einem Koffer das Haus verlässt.
    »Sie gehen jetzt besser.« Ava Bjely fasste die Greifräder ihres Rollstuhls und wendete geübt auf der Stelle. Das Gespräch war beendet, wenn ihm nicht schnell etwas einfiel.
    »Sie sind nicht die Einzige, die ein Problem mit Laura hat«, sagte er leise.
    Ava Bjely blieb in der Tür stehen, drehte sich um, sah ihn aus schmalen wasserblauen Augen an. »Was soll das werden? Die sympathische Tour? Von wegen ›wir haben etwas gemeinsam‹? Wären Sie doch bloß bei Ihrer Post-Strategie geblieben. Die war wenigstens unverschämt und direkt.«
    »Warum bezeichnen Sie Laura als Krankheit?«
    »Ha!«, lachte Ava Bjely auf. Es klang wie trockener Husten, freudlos und zynisch. Sie taxierte Jan, schließlich deutete sie auf sein Gesicht. »Haben Sie das schon lange?«
    »Was? Das Feuermal?«
    Ava Bjely nickte.
    »Von Geburt an. Feuermale hat man von Geburt an.«
    Sie nickte abermals. Dann glitt sie mit ihrem Rollstuhl zurück, gab die Tür frei und winkte Jan herein. An ihrem sehnigen Arm klimperten zwei schlichte Silberreife, an ihrem Ringfinger blitzte ein goldener Siegelring auf, mit einem dunklen Wappen in einem hellblauen Oval.
    »Kommen Sie jetzt rein?«, fragte Ava Bjely. »Oder haben Sie Ihre Meinung geändert?«
    Jan trat ins Haus und schloss die Tür hinter sich. Der Flur war mit weißgrauem Marmor ausgelegt. Das Gummi der Rollstuhlräder quietschte leise auf dem glatten Stein. Ava Bjely fuhr an einer Treppe vorbei durch eine breite Flügeltür, hinter der der Wohnbereich lag. Ein Hauch von Verdauung und Fäkalien stach Jan in die Nase.
    Als er den Raum betrat, sah er sich irritiert um. Das ganze Erdgeschoss bestand offenbar aus diesem einen Raum, der die Eingangshalle wie ein Hufeisen umschloss. Die Wände waren so weiß wie der opulente Stuck an der hohen Decke, der Boden bestand aus hellgrauem gekälkten Parkett. Das eine Ende des Hufeisens mündete in eine offene Küche, weiß und hochglänzend mit Armaturen aus Edelstahl, das andere Ende des U’s konnte er nicht einsehen. Der Esstisch vor dem Küchenbereich hatte das gleiche Grau wie die Bodendielen, die Stühle waren mit grauen Hussen verkleidet. Es schien, als hätte jemand die Farbe aus der Welt gewaschen. Die Bilderrahmen silbern, die Vorhänge weiß, das Kaminsims grau, die Buchrücken grau mit schwarzer Schrift. Egal, wohin er sah, es gab nur Weiß- und Grautöne.
    »Ihr Feuermal«, sagte Ava Bjely und rollte an den Esstisch. »Hätten Sie sich manchmal gewünscht, Sie könnten es entfernen lassen?«
    Jan setzte sich auf den Stuhl, den sie ihm zuwies. »Oft«, gab er zu. »Aber früher war das nicht möglich. Inzwischen gibt es eine Laserbehandlung, aber die ist langwierig und schmerzhaft.«
    »Mein Feuermal ist Laura. Egal was ich tue, ich werde sie nicht los. Sehen Sie sich um. Dieses Haus, dieser Rollstuhl«, ihre Hand schlug auf die Armlehne, dann auf ihre Beine, »diese beiden nutzlosen Dinger hier, und auch dieser Geruch – der ist Ihnen schon aufgefallen, oder? –, das alles ist Laura. Sie wird mich nie wieder loslassen. Sie können eine Laserbehandlung machen, um Ihr Mal loszuwerden. Ich müsste schon sterben oder zumindest das Gedächtnis verlieren.«
    »Soll das heißen, Laura

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