Der Schock: Psychothriller (German Edition)
alles. Die Farbe der Wände, der Boden, die Türen, die rote Lampe mit den goldenen Fäden, die noch im Luftzug seines Hereinkommens schwangen.
Nur die Fotos waren weg. Alle. Ausnahmslos.
Irgendjemand war hier gewesen, oder war es immer noch. Sein Herz schlug schneller. »Laura?«
Keine Antwort.
»Ist da jemand? Hallo?«
Die Stille war drückend und unheimlich. Aus der Wohnküche drang das leise Sirren des Kühlschranks.
Beruhig dich, dachte er. Hier ist niemand.
Er strich mit den Fingerspitzen über die kahle Wand. Dünne Schmutzränder, Reste von Tesafilm und winzige Löcher markierten die Stellen, wo die Fotos gehangen hatten.
Er ging ins Schlafzimmer. Dann in die Wohnküche und ins Bad. In der Stille erschien ihm jeder Schritt und jedes Rascheln seiner Kleidung viel zu laut. Auf den ersten Blick war alles unverändert. Das Waschbecken war trocken. Eine Zahnbürste war nicht vorhanden. Die Mülleimer waren leer.
Das Klingeln des Telefons fuhr ihm wie ein Messer ins Ohr. Das Geräusch kam aus dem Flur, vom Festnetzapparat auf der Kommode. Ein satinierter Knopf blinkte rot auf, und der Anrufbeantworter sprang an. Aus dem Lautsprecher drang ein leises Atmen. Zehn Sekunden. Fünfzehn Sekunden. Dann knackte es, und der rote Knopf verlosch.
Jan atmete tief durch, bis sein Pulsschlag sich etwas beruhigt hatte. Von irgendwoher drang das weit entfernte Jaulen eines Martinshorns durch die Fenster, und sofort beschleunigte sein Puls wieder. Sie mussten nur Katy ausfindig machen, sie wegen ihres flüchtigen Bruders befragen und dann nachhaken, ob ihr der Name Laura etwas sagte. Dann hatten sie ihn.
Vielleicht würde es ihn sogar entlasten, wenn Katy ihren Teil der Geschichte erzählte. Immerhin konnte sie bezeugen, dass Laura unter merkwürdigen Umständen verschwunden war. Doch das eigentliche Problem befand sich in seinem Tiefkühlschrank, ermordet mit seinem Messer, auf dem vermutlich seine Fingerabdrücke waren.
Nein. Katy konnte ihm herzlich wenig helfen. Das Beste, was sie für ihn tun konnte, war, den Mund zu halten und Lauras Adresse nicht preiszugeben. Dann hatte er wenigstens einen Unterschlupf.
Rasch griff er zu seinem Handy und wählte Katys Nummer. Erst beim sechsten Freizeichen nahm sie ab. »Hallo, Sherlock«, witzelte sie anstelle einer Begrüßung.
»Hi«, entgegnete er knapp. Nach Geplänkel war ihm so gar nicht zumute.
»Was macht dein aktueller Fall?«
Immerhin, dachte Jan, wenn sie so locker ist, dann war die Polizei bestimmt noch nicht bei ihr. »Du musst mir einen Gefallen tun.«
Katy seufzte. »Lass mich raten, es hat was mit Laura zu tun.«
»Versprich mir, dass du niemandem etwas von Laura erzählst, egal, wer dich fragt. Okay?«
»Was meinst du damit?«
»Wenn irgendjemand zu dir kommt und nach mir oder Laura fragt, dann tu bitte einfach so, als würdest du keine Laura kennen und –«
»Jan, was soll das?«, unterbrach ihn Katy. »Kannst du bitte mal Klartext reden? Wer soll denn kommen und mich nach dir fragen?«
Jan stöhnte – und ärgerte sich über sich selbst. »Die Polizei«, sagte er leise.
Stille. Natürlich.
Draußen auf der Straße hupte jemand.
»Katy? Bist du noch dran?«
»Die Polizei? Was ist denn passiert?«
»Versprichst du es mir?«
»Jan, ich verspreche dir gar nichts. Nicht, wenn ich nicht weiß, worum es geht.«
Jans Hand krampfte sich um das Handy. Es zerriss ihn förmlich; es hätte ihn mehr als erleichtert, Katy alles zu erzählen. Aber wie würde sie reagieren, wenn die Polizei bei ihr auftauchte und sie mit dem Mord konfrontierte? Er bezweifelte, dass es ihr gelingen würde, echte Überraschung oder Entsetzen zu heucheln. Die wenigsten Menschen waren dazu in der Lage. Und die Ermittler waren sicher keine Dummköpfe. Es reichte schon, wenn Katy sie in Bezug auf Laura belügen musste. »Bitte, Katy. Frag nicht«, sagte er. »Du musst einfach nur so tun, als ob dir der Name Laura nichts sagt, okay?«
»Und warum?«
Jan schwieg.
»Hast du Mist gebaut?«
»Nein.«
»Ehrlich?«
»Ich schwör’s dir. Du kennst mich. Gib mir einfach ein oder zwei Tage. Dann melde ich mich bei dir und erkläre dir alles.«
Wieder Stille.
»Also gut«, sagte Katy schließlich.
Jan atmete auf. »Ich dank dir.«
»Was man nicht alles für seinen kleinen Bruder tut, hm?«
»Wie erreiche ich dich in den nächsten Tagen?«
»Nur über Handy.«
»Ich ruf dich an.«
Sie zögerte. »Jan?«
»Was?«
»Pass auf dich auf.«
»Mach ich.« Rasch legte er auf und
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