Der Schock: Psychothriller (German Edition)
müden Augen gerieben. »Wissen Sie, Ihr Sohn hat Glück gehabt. Er hat zwar Albinismus, aber die üblichen Sehfehler, die damit einhergehen, die kann ich bei ihm nicht feststellen, oder sagen wir, nur marginal. Das ist … nun ja … also diese geringe Ausprägung ist mehr als ungewöhnlich. Wie gesagt, er hat Glück gehabt.«
Glück gehabt? Wieso denn Glück gehabt, hatte er sich gefragt. Das Gegenteil war doch der Fall. Er hatte Pech. Das Pech, falsch auf die Welt gekommen zu sein. Dass er ganz brauchbar sehen konnte, vor allem wenn die Dinge etwas weiter weg waren, das änderte schließlich auch nichts daran.
Gut. Später hatte er verstanden, was der Augenarzt gemeint hatte. Seine Augen zitterten nur selten, und wenn, dann nur minimal. Und Probleme beim räumlichen Sehen? Die waren ebenfalls selten. Seine Sehschärfe lag bei über 75 Prozent.
Die restlichen 25 Prozent dachte er sich einfach dazu. Kompensation. Antizipation.
Aber warum zum Teufel hatte er dann die Flasche übersehen? Waren das etwa die fehlenden 25 Prozent?
Er spürte seinen Hass wachsen, von Minute zu Minute. Dieser elende Parasit!
Im Spiegel betrachtete er die Schwellung unter seinem Kinn.
Das alles schrie nach Ordnung.
Lange genug hatten andere über ihn bestimmt, bis er das Heft in die Hand genommen hatte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er damals nach Hause geschlichen war, nachdem das mit Jenny passiert war.
Er hatte sich im Badezimmer eingeschlossen, hatte vor dem Spiegel gestanden, in der weißen Hose seines Vaters, mit dem weißen Hemd und den schwarzen Ornamenten im Gesicht. Im Spiegel berauschte er sich an seiner Erektion, so lange, bis er leergepumpt war. Dann wusch er sich den anderen vom Leib, und Froggy schälte sich wieder hervor. Und mit ihm die Zweifel, die Angst, die Scham, die Bestürzung.
Am Morgen entdeckte seine Mutter schwarze Schlieren im Waschbecken und fragte nach ihrem schwarzen Eyeliner. Er hatte keine Antwort, auch nicht, als sie die weiße Hose seines Vaters in der Wäsche fand, und dann noch das weiße Hemd.
Die schwarzen Schlieren im Waschbecken waren gar nicht so schlimm. Schließlich gab es auch beim Haarefärben immer schwarze Schlieren. Und Haare färben war ja richtig.
Wirklich schlimm war die weiße Kleidung. Denn seine Mutter hasste weiße Kleidung. Als Kind hatte er einmal einen Arztkittel aus einem Spielzeugset übergezogen. Er war glücklich und beseelt gewesen von der Vorstellung, dass jemand so Wichtiges wie ein Arzt etwas ganz und gar Weißes trug. Eine Zeitlang hatte er jeden Nachmittag Arzt gespielt. Der Kittel war wie eine zweite Haut. Doch als seine Mutter das entdeckte, schnitt sie den Kittel in Stücke, und er bekam zwei Tage lang kein Essen.
Auch sonst war das mit dem Essen immer wieder schwierig, was daran lag, dass sich Essen und Schminke nicht vertrugen. Jedenfalls nicht bei Kindern. Als er mit vier Jahren in den Kindergarten kam, da begann seine Mutter, ihn zu schminken. Er sollte normal aussehen. Sich fühlen dürfen wie die anderen Kinder, hatte sie gesagt.
Doch wenn er im Kindergarten tobte, aß oder trank und sich anschließend das Gesicht mit dem Ärmel oder den Fingern abwischte, dann geriet jedes Mal sein Make-up in Unordnung. Ihm selbst fiel es nie auf, aber seine Mutter hatte dafür einen scharfen Blick.
Also durfte er im Kindergarten nichts mehr essen oder trinken. Auch toben und im Sandkasten spielen war zu riskant. Kam er mit verschmiertem Make-up nach Hause, dann gab es kein Essen, bis zum nächsten Mittag.
Erst am Abend konnte er duschen und sich weißwaschen. Danach durfte er das Haus nicht mehr verlassen. Und er lernte schnell, dass er auch besser das Zimmer nicht verließ. Es gefiel seiner Mutter nicht, wenn er ihr so unter die Augen trat. Eine Zeitlang hatte er heimlich auf der Treppe gelegen und ferngesehen. Bis zum 26. Dezember 1969, als sein Vater ihn dort entdeckte.
Danach sperrten sie seine Zimmertür abends ab, und ihm blieb nichts, als auf die kahle Wand zu starren. Erst drei Jahre später entdeckte er im Keller die Zeitschriften, versteckt in einem großen Karton. Die meisten der Mädchen darin waren nackt. Die blassen Blonden gefielen ihm besonders. Nach und nach schnitt er ein paar von ihnen aus, heftete sie nachts an seine Zimmerwände und richtete seine Schreibtischleuchte darauf, so dass sie in der Dunkelheit strahlten.
Strahlten wie er.
So war er weniger alleine gewesen.
Es war höchste Zeit, Jan ein für alle Mal aus dem Weg zu
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