Der Schoepfer
viel Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Er hatte eingehend einen Stadtplan von Rainbow Falls studiert, den Erika ihm aus dem Internet runtergeladen hatte, unterlegt mit einem Gitter von Längen- und Breitengraden, die in Millisekunden unterteilt waren. So würde er sich von Anfang an mit großer Sicherheit von einem entscheidenden Punkt zum anderen bewegen können, obwohl er noch nie in dieser Stadt gewesen war. Wie immer würde er sich umso leichter und präziser von einem Ort zum anderen begeben können, je öfter er sich in einer bestimmten Gegend umherbewegte. Er würde rasch ein intuitives Bewusstsein der Koordinaten jedes Quadratmeters von Rainbow Falls entwickeln.
Er begann deshalb im Park, weil sich dort an einem kalten Abend so gut wie niemand aufhalten würde. Im Schein der Lampen an den Fußwegen war kein Spaziergänger zu sehen, und die Bänke, an denen er vorüberkam, waren nicht besetzt.
Mitten im Park befand sich ein Standbild von einem Soldaten, der seinen Helm über sein Herz hielt, den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen auf den Himmel gerichtet hatte. In den Granitsockel waren Bronzetafeln eingelassen, die die Namen von jungen Männern und Frauen trugen, Einheimischen, die in den Krieg gezogen und nie nach Hause zurückgekehrt waren.
Solche Denkmäler gingen Deucalion immer nahe. Er fühlte sich diesen Menschen seelenverwandt, weil sie ebenso, wie er es wusste, gewusst hatten, dass das Böse nicht nur ein Wort ist und dass es sich nicht salopp neu definieren lässt, damit es sich veränderten Maßstäben anpasst, dass das Böse auf Erden umgeht und dass man ihm um jeden Preis widerstehen muss. Ausbleibender Widerstand, jeder Kompromiss mit dem Bösen, würde früher oder später einen Kampfstiefel im Nacken der Menschheit garantieren, die Ermordung aller Unschuldigen und ein ewiges Dunkel, das kein Sonnenaufgang je wieder aufhellen würde.
Auf seine einzigartige Weise bewegte er sich in dem Park von einem Punkt zum anderen. Vom Kriegerdenkmal zu dem spiegelnden Teich, zum Tor, das auf die St. Ignatius Avenue führte, zum Kinderspielplatz mit den Schaukeln und Wippen. Er lief auch da und dort umher, unter Bäumen, in denen wild lebende Tauben gurrten, und schließlich gelangte er zu dem Tor, das auf die Bearpaw Lane führte. Dort blieb er im tiefen Schatten einiger Kiefern stehen, um den Straßenverkehr zu beobachten.
Er hielt nicht bewusst nach etwas Bestimmtem Ausschau. Er gestattete der Stadt, den Eindruck auf ihn zu machen, den sie ihm vermitteln wollte. Falls Rainbow Falls ein weitgehend gesunder Ort war, wo die Hoffnung die Hoffnungslosigkeit überwog, wo Freiheit gedieh, wo auf der Waage der Gerechtigkeit die Tugend schwerer wog als das Laster, würde er die Stadt mit der Zeit als einen guten Ort erkennen. Falls sie jedoch von Grund auf verkommen war, würde er auch das erkennen, und ihm würden Hinweise auf die Ursache des Übels auffallen.
Vom Park aus begab er sich mit einem einzigen Schritt ans Flussufer, nicht weit von den sagenumwobenen Wasserfällen, deren Brodeln ständig Dunst aufsteigen ließ, in den der Sonnenschein an einem strahlend schönen Tag stundenlang Regenbogen wob. In der Dunkelheit war der Dunst farblos, unzählige bleiche Geister, die sich von jeder der sechs Stufen erhoben und nach Osten schwebten, um Orte heimzusuchen, die flussabwärts lagen.
Er wandte sich von dem Fluss ab und begab sich in den Glockenturm der St. Helena Kirche. Eine Zeit lang beobachtete er das Treiben auf der Cody Street: die warm eingepackten Fußgänger auf ihrem Heimweg oder auf dem Weg zum Abendessen in einem Restaurant, und hinter den Schaufenstern hell erleuchteter Geschäfte Menschen beim Einkaufen … Dann sah er sich in einer ruhigen mittelständischen Wohngegend um, in der Gasse hinter dem Rainbow Theater, auf einem Dach mit Brüstung, von dem aus man auf die Beartooth Avenue blickte …
Das Einzige, was ihm merkwürdig vorkam, waren die Lieferwagen. Er sah fünf von ihnen an den verschiedensten Orten: große, fensterlose Lieferwagen mit mitternachtsblauen Fahrerkabinen und weißen Laderäumen. Sie waren offensichtlich neu, gründlich gewaschen, gewachst und auf Hochglanz gebracht, und sie trugen keinen Firmennamen. Er hatte noch keinen gesehen, der etwas abholte oder auslieferte, sondern alle nur in Bewegung. Jeder war mit einem zweiköpfigen Team unterwegs, und nachdem er sie eine Zeit lang beobachtet hatte, entschied Deucalion, an sämtlichen Fahrern fiele auf, dass sie
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