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Der Schoepfer

Der Schoepfer

Titel: Der Schoepfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrún Eva Mínervudóttir
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erste Puppe, die ihm je gestohlen worden war. Sie musste sie mitgenommen haben. Er würde sie finden, und wenn ihm das nicht gelänge, würde er die Polizei einschalten. Die Mädchen waren nichts Illegales, auch wenn manche Leute sie unmoralisch und geschmacklos fanden.
    Er musste an die morbide Botschaft in dem weißen Umschlag denken, und auf einmal fiel es ihm wieder ein. Hatte diese Lóa nicht den Tod ihres Vaters erwähnt? »Wir haben ihn letzte Woche beerdigt«, hatte sie gesagt. Auch dass es ein Herzinfarkt gewesen sei, aber vielleicht war das gelogen. Lóa musste Hans’ Tochter sein und die Todesanzeige gebastelt haben. Was sonst hätte sie für einen Grund haben sollen, die Schwarzhaarige zu klauen?
    Ohne genau zu wissen, was er tat, stürmte Sveinn zur Tür an der Westseite der Baracke und riss sie auf. Die Staubschicht unter seinen Füßen bewies eindeutig, dass dort niemand herumgelaufen war, wahrscheinlich seit seinem Einzug nicht mehr. Warum hatte sie die Werkstatt nicht durch diese Tür verlassen? Wahrscheinlich hatte sie sie übersehen. Die Tür passte sich genau in die Täfelung ein, war wie die Wände holzverkleidet.
    Sveinn schloss die Tür wieder, ging ins Lager und ließ seinen Blick über die Regale schweifen. Er wusste nicht genau, wie viele Säcke, Dosen und Eimer mit Gips, Silikonpulver, Bindemittel und Farbe dort genau standen, aber soweit er sehen konnte, befand sich alles an seinem Platz. Bis auf den kleinen Holzhocker, der nicht mehr an der Wand hinter der Tür stand,
sondern unter dem Waschbecken. Was hatte das zu bedeuten? Na ja, vielleicht hatte er den Hocker selbst dorthin gestellt, ohne sich daran erinnern zu können.
    Er war völlig irritiert und wusste überhaupt nicht, was er als Nächstes tun sollte. Er setzte sich auf den Holzhocker, legte den Arm auf den Rand des Waschbeckens, und zum ersten Mal, seit er eingezogen war, fiel ihm auf, dass es kein Fenster gab, weder im Lager noch in der Werkstatt. Dann schaute er auf die Uhr, die sein Vater ihm zu seinem vierzigsten Geburtstag geschickt hatte. Sie war schwer, altmodisch und vertrauenerweckend.
    Es war zwanzig Minuten nach zwei. Kjartan ging samstags oft zum Mittagessen zu seiner Mutter, aber jetzt war er bestimmt wieder zu Hause und saß vor dem Computer. Sveinn musste sich gezwungenermaßen eingestehen, dass Kjartan der Einzige war, zu dem er in einem Moment wie diesem gehen konnte. Er musste sich jemandem anvertrauen. Jemandem, mit dem man laut nachdenken und die Lage abschätzen konnte, über die Blödsinnigkeit lachen und sich dann ablenken konnte, indem man über etwas ganz anderes sprach.
    Warum war er so aufgewühlt? Er hatte doch wohl keine Angst? Er hatte in Lóas Augen geschaut und gesehen, dass sie genauso harmlos war wie er selbst oder die Schwarzhaarige – in diesen Dingen vertraute er auf seinen Instinkt. Und er hegte keine Gefühle für die Puppe, Gott weiß, was auch immer sich die Leute bei Einzelgängern wie ihm vorstellen mochten. Wenn sie mehr für ihn wäre als nur ein schöner Gegenstand, würde er sie Kjartan niemals überlassen.
    Es bedeutete auch keinen nennenswerten finanziellen Schaden. Ein paar Bestellungen würden sich verzögern, aber damit musste man rechnen. Kjartan würde die Sache gleichmütig aufnehmen. Er legte immer Wert darauf, wie ein ausgeglichener
Mann vom Land zu wirken, der sich vom Trubel in der Welt nicht aus dem Gleichgewicht bringen ließ.
    Es musste also ein Fünkchen Wahrheit daran sein, wie viele behaupteten: dass Drohungen einem zusetzten, auch wenn man sie nicht ernst nahm, und dass Diebstahl, abgesehen von dem Verlust, immer ein unangenehmer Eingriff in die Privatsphäre war.
    Sveinn zog trotz des Sonnenscheins und der Wärme seine schicke, englische Wachsjacke an – als glaubte er, sich damit gegen die Wirklichkeit und weitere unfaire Übergriffe schützen zu können – und machte sich zu Fuß auf den Weg zu Kjartan.

IV
Samstag & Samstagabend
    Lóa klopfte an Margréts Tür, den Arm voll sauberer Wäsche, und es war eine Erleichterung, nach der morgendlichen Aufregung nur noch den altvertrauten Angstschmerz zu spüren. Sie hatte Angst, das kahle Zimmer ihrer Tochter zu betreten und in ihre tödlich verwundeten Augen zu schauen, die bereits merkwürdig glänzten und hervorquollen, so als wollten sie sich einen Weg aus dem Kopf bahnen.
    »Herein«, hörte sie Margrét sagen.
    Ína war nirgends zu sehen. Die pflückte ja im Badezimmer Beeren – sammelte die

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