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Der Schoepfer

Der Schoepfer

Titel: Der Schoepfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrún Eva Mínervudóttir
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Styroporkügelchen auf, die sie offenbar sehr faszinierten.
    Lóa trat ins Zimmer und versuchte, Liebe und Fürsorge auszustrahlen, versuchte, die heilige Mutter zu sein. Der Psychologe, bei dem Margrét in Therapie war, hatte Lóa erklärt, Wut sei nur natürlich und nichts anderes als ein aggressives Erscheinungsbild von Angst, Lóa dürfe sie aber keinesfalls gegen Margrét richten und ihr keine Schuldgefühle verursachen.
    Der Schreibtisch am Fenster war mit Stiften, Büchern und ausgedruckten Notizen übersät, und ganz oben auf dem Stapel thronte der summende Laptop. Die königsblauen Vorhänge, denen Margrét nie Beachtung geschenkt hatte, standen offen.
Entweder war sie am frühen Morgen aufgestanden und hatte sie aufgezogen oder, was wahrscheinlicher war, sie vor dem Zubettgehen gar nicht erst zugezogen. Die schwarzen Verdunkelungsvorhänge waren ebenfalls unberührt, obwohl Margrét die nicht ganz so schlimm fand wie die königsblauen.
    Das Fenster war ihre Frontlinie gewesen, bevor Lóa den Kampf um die Vorhänge gewonnen hatte. Margrét wollte keine Decken, keine Kissen, nichts, was das weiß gestrichene Zimmer beleben und ihm eine wärmere Atmosphäre verleihen könnte, aber Lóa hatte ihr klargemacht, dass in ihrem Heim keine nackten Fenster in Frage kämen, die fälschlicherweise signalisieren würden, Margréts Zimmer stünde leer.
    Lóa legte den Kleiderstapel auf die alte Eichenkommode, die Margrét von ihrer Großmutter väterlicherseits geschenkt bekommen hatte. Socken und Unterwäsche kamen in die untere Schublade, Hosen in die mittlere und T-Shirts in die obere, Kleider und Röcke in den großen Einbauschrank in der Ecke neben der Kommode.
    Margrét beobachtete ihre Mutter, als sei diese mit irgendwelchen dunklen Machenschaften beschäftigt. Als Lóa alles eingeräumt hatte, setzte sie sich vorsichtig auf die Bettkante, als hätte sie Angst, etwas kaputt zu machen. Früher hatte sie manchmal die Kontrolle verloren und Margrét angeblafft, versucht, sie aus ihrer Apathie zu reißen. Mittlerweile war es undenkbar, sie zu verletzen, doch zugleich unvermeidlich, da jedes Wort, das man an sie richtete, jeder Atemzug und jeder Blick eine Art Übergriff war.
    Margrét saß halb im Bett, das wuchtige Geschichtsbuch aufgeschlagen auf ihrem mageren Bauch. Lóa konnte sich nie an diesen Anblick gewöhnen: ihr stumpfes Haar, ihre knochigen Arme, ihre spitzen Kieferknochen, die über den eingefallenen
Wangen herausstachen, die zarten, hellen Härchen, die sich wie Flaum an ihrem ganzen Körper gebildet hatten. Das Kind bestand nur noch aus Augen und Ellbogen. Sie sah aus wie ein Jungvogel, der frisch aus dem Ei geschlüpft war. Das grüne T-Shirt, das sich früher nahezu obszön über ihrem Bauch gespannt hatte, hing schlaff von ihren hervorstechenden Schlüsselbeinen.
    »Kennst du deine Schulbücher nicht schon auswendig, mein fleißiges Bienchen?«, sagte Lóa. »Weißt du noch, was wir besprochen haben? Dass du dich anziehst und frühstückst, bevor du anfängst zu lernen?«
    »Ich stehe ja gleich auf«, antwortete Margrét. »Es ist noch nicht mal neun Uhr.«
    Sie war zwar einigermaßen höflich, aber die Verbitterung war nicht zu überhören. Ihre Stimme klang wie die einer Neunzigjährigen.
    »Sie hasst mich nicht«, dachte Lóa. »Nicht direkt. Ich darf das nicht zu persönlich nehmen.«
    »Ich habe ein Geschenk für dich«, sagte sie. »Bitte beurteile es nicht sofort, versuch erst mal, dich an sie zu gewöhnen, mir zuliebe. Sie soll dir helfen, dich besser zu fühlen. Sie verringert das Hungergefühl«, fügte sie hinzu, obwohl sie dagegen war, Kinder anzulügen. Aber in der Liebe und im Krieg war alles erlaubt, und dies war beides. Ein Krieg mit dem Tod, geführt im Namen der Liebe.
    »Ich hab keinen Hunger«, sagte Margrét.
    »Sie ist ja auch nicht essbar, nur hübsch. Warte einen Moment, ich hole sie.«
    Da es nicht in Frage kam, Ína zu stören, wenn sie so ruhig und brav spielte, hatte Lóa keine Möglichkeit, die Puppe vernünftig zu transportieren. Es ging eben nicht anders, auch
wenn Margrét pikiert sein würde, wenn sie mitansehen musste, wie ihre Mutter ungelenk mit einem toten Gegenstand herumhantierte. Vielleicht würde es ihr ja auch guttun.
    Nach mehreren Versuchen beschloss Lóa, dass es am besten war, der Puppe von hinten die Arme um die Taille zu legen; die Brüste sorgten dafür, dass sie ihr nicht aus den Händen glitt. Sie musste um die fünfzig Kilo wiegen. Wie die Dünger-

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