Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)

brauchte, um zu begreifen, was er getan hatte, spürte Parrish nichts außer dem Bewusstsein seiner eigenen Dummheit und Ignoranz. Im selben Augenblick stand Radick schon hinter ihm und riss seine Arme mit solcher Kraft nach hinten, dass Parrish sich nicht einmal wehren konnte.
    »Sie Arschloch, Frank!«, platzte er heraus. »Sie dummes, beschissenes Arschloch!«
    »Caitlin? Caitlin? Mein Gott, es tut mir leid … Mein Gott, Caitlin, ich wollte doch nicht … Caitlin? Schätzchen?«
    Doch Radick führte ihn zur Tür und hielt seine Arme wie in einer Schraubzwinge. Während er mit einer Hand die Wohnungstür öffnete, stieß er Parrish mit der anderen in den Flur. Dann warf er die Tür zu.
    Parrish hörte, wie der Schlüssel im Schloss gedreht und die Sicherheitskette vorgelegt wurde. Er begriff, dass es keinen Weg zurück gab.
    »Caitlin!«, brüllte er. »Caitlin! Mein Gott, es tut mir leid! Ich wollte es nicht! Caitlin!«
    Dann hörte er Radicks Stimme – fest und sicher jenseits der Tür. »Gehen Sie nach Hause, Frank. Beruhigen Sie sich. Gehen Sie nach Hause, und regen Sie sich verdammt noch mal ab. Sonst rufe ich im Revier an und lasse Sie über Nacht einsperren.«
    »Halt’s Maul, Radick …«
    »Frank! Hören Sie mir jetzt zu! Sie gehen nach Hause und regen sich ab, sonst rufe ich Valderas an, und Ihr Arsch landet über Nacht in einer Arrestzelle! Verstehen Sie mich? Hauen Sie einfach ab, okay?«
    Parrish trat einen Schritt zurück. Dabei traf er mit dem Absatz die Tüte mit den Essenskartons auf dem Boden des Hausflurs, und in einem letzten Aufflackern von Zorn versetzte er ihr mit aller Kraft einen Tritt.
    Explosionsartig spritzte das Essen durch den Flur und an die Wände. Nudeln, Reis, Hühnerstücke. Ein Behälter mit süß-saurer Soße entlud seinen Inhalt auf die obersten Stufen der Treppe. Parrish beobachtete all das, mit rasendem Herzen und geballten Fäusten. Einen Moment lang schien es ihm, als stünde er neben sich, als könne er beinahe selbst über die Idiotie seines Verhaltens lachen.
    Er wusste, dass Radick nicht lauschen würde. Also drehte er sich um und presste sein Ohr gegen die Tür. Er hörte Caitlin schluchzen, hörte Radicks Versuche, sie zu trösten, und er fragte sich, ob dies nun der Anfang vom Ende war. Caitlin würde es Robert erzählen und der wiederum Clare, und der Grad an familiärer Entfremdung, für den er bereits gesorgt hatte, würde sich noch tausendfach vergrößern. Radick würde den Vorfall Valderas melden, Valderas würde mit Haversaw reden, und einmal mehr würde Parrish ohne Partner dastehen. Vielleicht würden sie ihn diesmal auch endgültig feuern. In seinem Schreibtisch würde man auf sechs weitere ungelöste Fälle stoßen. Neben dem Toten in der U-Bahn, der Nutte und dem Campus-Mord. Auf der Tafel würde sich diese Bilanz nicht gut machen. Und vielleicht erwartete ihn sogar eine Anklage wegen tätlichen Angriffs auf seine eigene Tochter …
    Parrish hielt einen Moment inne, außerstande zu atmen. Er wollte, dass alles aufhörte. Die ganze Welt sollte verschwinden und nur ihn selbst und seine Tochter zurücklassen, mit ein paar Minuten Stille, in denen er sich erklären konnte.
    Er betrachtete das Chaos ringsum – die verstreuten Kartons, das Essen an den Wänden und auf der Treppe – und wusste, dass er es keine Minute länger ertragen konnte.
    Er hastete nach unten und verließ das Gebäude, ehe irgendjemand ihn sehen konnte.

    39
    Ein Spieler fühlt sich erst dann sicher, wenn er nichts mehr zu verlieren hat.
    Parrish hatte mit seiner Ehe gespielt, mit seiner Familie, seiner Karriere, seinem ganzen Leben.
    Jeden Tag und in jeder Hinsicht geht’s mit mir abwärts.
    Er fand eine Wasserstelle, irgendein Lokal an der Baltic Street. Er hätte genauso gut irgendwo anders hingehen können, denn diese Art Pubs waren überall gleich – eine abgenutzte hölzerne Bar, eine neongetränkte Atmosphäre, die jeden krank aussehen ließ; ein Ort, dessen Zweck vor allem darin bestand, einen genau an die Dinge zu erinnern, die man lieber vergessen wollte.
    Böser Bulle. Kein Nachtisch heute.
    Er trug seine Ängste mit sich herum wie eine Narbe. Er trug sein Herz auf der Zunge, und dieses Herz war gebrochen und blutend, wund und leer.
    Eine Leere wie eine entzündete Zahnwurzel.
    Nach drei Bushmills war er so weit, dass er glaubte, vergessen zu können, was er getan hatte.
    Man lernt die wichtigen Dinge erst zu schätzen, wenn man sie verloren hat.
    Nach dem vierten ging er