Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
Fettuccine und Cannoli zusammensitzen würde. Wenn man ihn davon unterrichtete, dass Soundso pensioniert oder tot war, kam er ins Schwitzen.
Frank Parrishs Erbe waren ein toter Vater, eine tote Mutter, die Geister der Vergangenheit und ein schlechtes Gewissen, weil er ein Teil all dessen gewesen war – wenigstens indirekt – und weil dank John Parrish Menschen gestorben waren, die noch hätten leben sollen. Mit Marie Griffin über diese Dinge zu sprechen, war auf mehr als eine Weise wichtig gewesen. Glaubte er, dass darin ein therapeutischer Nutzen lag? Nicht mehr als der Nutzen, den jeder daraus zog, der sich über etwas aussprach. Glaubte er, dass er das alles losgelassen hatte? Auf keinen Fall. Er hatte sein ganzes Leben im Schatten von John Parrish verbracht, und dieser Schatten war nicht einfach verschwunden. Hatte er etwas zu bedeuten? Nicht mehr als irgendein anderes Detail seines versauten Lebens. Clare. Robert. Caitlin. Jimmy Radick. Richard McKee und die Snuff-Filme. Das, was er zu Radick gesagt hatte, hatte er auch so gemeint. Wenn er sich bei diesem Fall irrte, würde er kündigen. Aber er irrte sich nicht. Das war nicht möglich. Nicht noch einmal.
73
Der Freitag schien irgendwie zu zerfließen. Parrish hätte nicht sagen können, wohin er verschwand. Bis Mittag besprachen er und Radick sich, wobei sie sich stets im Kreis zu drehen schienen, dann gingen sie gemeinsam ins Archiv, um nach weiteren Hinweisen auf Absolute Films und deren Bemühungen um Jennifers kurzlebige Filmkarriere zu suchen.
Erickson räumte ihnen uneingeschränkten Zugriff auf sämtliches Material ein. »Tut euch keinen Zwang an«, ermunterte er sie und ließ sie dann allein.
Parrish – obwohl mit Material dieser Art vertraut – fühlte sich einmal mehr in die dunkelsten Winkel und Niederungen menschlicher Verderbtheit entführt. Ab welchem Punkt wurden Menschen derart unkontrolliert davon besessen, anderen so etwas anzutun? Und warum? Zur sexuellen Befriedigung? Dominanz? Macht über Leben und Tod? Wann genau wurde es notwendig, die Grenzlinie zu überschreiten? Er wusste es nicht und konnte sich auch nicht wirklich vorstellen, dass irgendjemand sonst es wusste.
Jeder Mensch hat Gedanken – grausame, destruktive, boshafte, rachsüchtige –, die er manchmal monate- oder jahrelang gegen irgendwelche Leute hegt, die nach seiner Ansicht Verderben und Strafe wegen irgendwelcher Übeltaten verdienen. Und doch bleibt es bei diesen Gedanken. Man verbietet sich, sie umzusetzen, vielleicht wegen einer Art innerer Zensur, oder weil man an die fundamentale Balance aller Dinge glaubt und Angst vor negativen Folgen hat, falls man die eigenen destruktiven Bedürfnisse auslebt.
Diejenigen allerdings, die solche schrecklichen Dinge wirklich taten , so dachte Parrish, waren nur eine winzige Minderheit im Vergleich zur überwältigenden Mehrheit derer, die so etwas nur dachten . Gedanken waren keine Sünde. Erst Taten, wenn sie gegen den Frieden und die Würde des Individuums und der Gesellschaft gerichtet waren, wurden gemeinhin verurteilt. So stand es in den Gesetzbüchern. So war es in der moralischen Struktur der Gemeinschaft verankert. Diese Überzeugungen waren tief ins Gefüge der Gesellschaft eingewoben. In diesem Moment allerdings, wo er mit Radick hier in diesem Kellerbüro des Sittendezernats hockte und daran erinnert wurde, was die Mädchen hatten erleiden müssen, wurde seine Entschlossenheit bezüglich des weiteren Vorgehens nur noch stärker. Das eine Foto von Jennifer hatte schon ausgereicht. Richard McKee mochte nicht für alle Sünden der Menschheit die Verantwortung tragen, für einige aber mit Sicherheit …
War er in einem Maße verantwortlich, das die außergewöhnlichen Maßnahmen rechtfertigte, die Parrish zu ergreifen gedachte? Er glaubte schon.
Um vier Uhr hatten sie genug gesehen, alle beide. Sie packten das Material, das Erickson ihnen überlassen hatte, wieder zusammen und stellten es an seinem ordnungsgemäßen Platz ab. Sie hatten nur an der Oberfläche der Dinge gekratzt.
»Es ist ein Fass ohne Boden«, sagte Radick, als sie das Gebäude verließen. »Wir könnten ewig weitersuchen, ohne irgendetwas zu finden. Und solange derjenige, der hinter diesen Morden steckt, sich kein weiteres Mädchen schnappt – oder es tut, ohne dass wir es bemerken –, werden wir wohl niemals die Wahrheit erfahren.«
Parrish – der in diesem Augenblick mehr denn je versucht war, Radick von seinem Verdacht zu berichten, ihm
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