Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
brachte.
Parrish hatte den Wohnungsschlüssel noch bei sich, auch wenn die Bezeichnung »Wohnung« etwas deutlich Funktionelleres und Ansprechenderes erwarten ließ als den Anblick, der sich ihnen bot.
»Ich begreife bis heute nicht, wie Leute so leben können«, sagte Radick. Er zog Latexhandschuhe über und begann damit, schmierige Brathähnchenschachteln und leere Dosen umzudrehen. Er entdeckte eine Kaffeetasse mit zwei Zentimetern Kaffee unter drei Zentimetern Schimmel.
»Das Mädchen kann nicht lange hier gewesen sein«, sagte Parrish. »Nur ganz wenige Mädchen würden solch eine Wohnung tolerieren. Ich wette, sie hätte ein wenig aufgeräumt.«
»Sie vermuten, dass jemand erst sie getötet hat und später ihren Bruder, weil er das Mädchen und den Würger in Verbindung bringen konnte?«
Parrish antwortete nicht. Auf Händen und Knien untersuchte er die Teppichkante.
Radick zuckte die Achseln. Er ging weiter ins Schlafzimmer, wo das ermordete Mädchen gelegen hatte. Dort zog er eine kleine Digitalkamera aus der Jackentasche und machte Aufnahmen.
»Machen Sie jedes Mal eigene Bilder?«, fragte Parrish, als er ins Zimmer trat.
»Es ist ganz nützlich, ein paar zusätzliche Fotos zu haben. Manchmal will ich nicht so lange warten, bis die Aufnahmen vom Tatort geliefert werden.«
Parrish ließ ihn weitermachen und nahm aus dem Augenwinkel immer wieder das Blitzlicht wahr. Auch er zog Handschuhe über und machte sich in der Küche an die Arbeit. Er durchwühlte Schubladen, öffnete den Ofen und die Mikrowelle. Die Schränke waren mehr oder weniger leer – eine Dose Chili, eine mit Adzukibohnen, ein halb leeres Päckchen Uncle Ben’s. Im Kühlschrank fand er ein Ei und einen seit fünf Tagen abgelaufenen Karton Milch, der sich bereits zu wölben begonnen hatte. Im Fach darunter befanden sich ein halber Salatkopf in Klarsichtfolie und drei Scheiben Brot, verdorben und hart und an den Kanten hochgebogen. Wie Leute so leben konnten, hatte Radick gefragt. Einfach so, dachte Parrish, der sich bewusst machte, dass es in seinem eigenen Kühlschrank kaum anders aussah. Er wusste eigentlich nicht, was er hier zu finden hoffte, vor allem, nachdem die Spurensicherung bereits ihre Arbeit getan hatte. Doch das hielt ihn nicht vom Weitersuchen ab.
Eine halbe Stunde später war Radick fertig.
»Ich hab alles, was ich brauche«, sagte er. »Wie wollen Sie in dem Fall weiter vorgehen?«
»Nun, wir müssen diese Frau in Williamsburg ausfindig machen, Rebeccas Schule besuchen, mit ihren Freunden und mit allen anderen sprechen, mit denen sie ihre Freizeit verbrachte«, erwiderte Parrish. »Vielleicht ist inzwischen auch eine Vermisstenanzeige aufgetaucht.«
»Glauben Sie, dass sie seinetwegen gestorben ist? Oder er ihretwegen?«
»Ich denke, dass er ihretwegen ermordet wurde, aber zum Teufel, solange wir nichts Genaueres wissen, ist das bloß Theorie, stimmt’s?«
Drei Stunden später hatten sie einen Namen und eine Adresse in Williamsburg. Es gelang ihnen, Rebeccas Spur übers Jugendamt zur Schulverwaltung von Williamsburg zu verfolgen. Sie riefen beim Schülerregister an und ließen sich eine Kopie ihres Anmeldeformulars schicken. Darauf befand sich – in der rechten oberen Ecke – ein Foto, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Sie fragten im Sekretariat ihrer Schule nach und erhielten Namen und Telefonnummer einer gewissen Helen Jarvis, die in den Akten als Rebeccas Erziehungsberechtigte eingetragen war. Die Frau, nach der sie gesucht hatten.
Um siebzehn Uhr saßen Parrish und Radick in einem koscheren Deli auf der Prospect Street nahe der Manhattan Bridge. Parrish aß ein Sandwich mit Pastrami und geschmolzenem Schweizer Käse; Radick hatte einen dunkel getoasteten Bagel mit Erdnussbutter bestellt.
»Rebecca wohnt also drüben in Williamsburg, Danny in South Brooklyn. Sie sehen sich eher selten. Sie ist ein anständiges Mädchen, geht zur Schule, bekommt gute Noten … und dann verschwindet sie.«
»Ich denke, wir sollten mit dieser Helen Jarvis reden«, sagte Radick. »Von mir aus jetzt sofort.«
»Klar«, sagte Parrish, »lassen Sie mich nur eben aufessen.«
Der Verkehr war nicht so schlimm wie gewöhnlich, und um 18:45 Uhr hielten sie vor dem Haus 1256 Ditmars Street.
Die Frau, die ihnen die Tür öffnete, war Mitte, vielleicht Ende vierzig. Parrish erkannte sie sofort von dem Foto wieder, das er in Danny Langes Wohnung gefunden hatte.
Helen Jarvis wusste, wer sie waren, noch ehe sie
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