Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
hielt, wussten sie Bescheid. Wenn die Kinder nicht von der Schule nach Hause kamen und ihre Freunde nicht sagen konnten, wo sie waren, und sie weder bei irgendjemandem übernachteten noch zu einem besonders späten Football-Training mussten, dann wussten sie Bescheid .
Helen Jarvis hatte diesen Gesichtsausdruck. Niedergeschlagen. Besiegt. Schmerzhaft resigniert. Ihre Worte – nervös, zu schnell, allzu eifrig auf Erklärungen bedacht – waren nur eine Verzögerungstaktik gewesen. Sie hatte von dem Mädchen in der Gegenwartsform gesprochen, in der Vergangenheit, dann wieder in der Gegenwart.
»Nein«, protestierte sie leise, beinahe flüsternd. Und dann wieder: »Nein.«
»Wir haben sie in Dannys Wohnung gefunden«, sagte Parrish. »Am Montag. Danny haben wir ein paar Stunden zuvor entdeckt.«
Helen Jarvis riss die Augen auf.
»Ja, alle beide«, sagte Parrish. »Danny wurde aus kurzer Distanz erschossen, und Rebecca wurde erdrosselt.«
»Erdrosselt?«, fragte Helen. Nicht weil sie das Wort missverstanden hatte oder seine Bedeutung nicht erfasste, sondern weil das Bild ihrer Rebecca mit jemandes Händen um ihren Hals, der sie zu Tode würgte, sie mit voller Breitseite getroffen hatte.
Sie begann zu hyperventilieren, und Parrish riet ihr freundlich, aber bestimmt, aufzustehen, sich zu bewegen und dabei tief zu atmen. Er schickte Radick los, um ihr ein Glas Wasser zu besorgen, doch Helen wollte lieber einen Whiskey. Die Flasche stand im Schrank über dem Spülbecken, die Gläser rechts daneben.
Sie setzte sich hin, stand wieder auf, und dann begann sie zu weinen.
Sie weinte eine halbe Stunde lang. Ihr Oberkörper bebte, ihre Stimme wurde heiser, ihre Augen rot und verquollen und verzweifelt. Sie wandte den Blick nicht von Parrish ab, so als könne er etwas sagen oder tun, damit es ihr besser ginge. Doch das konnte er nicht, und sie wusste es genau.
Nicht ein einziges Mal fragte sie, ob sie in Schwierigkeiten steckte. Nicht ein einziges Mal wollte sie wissen, ob das Jugendamt gegen sie ermitteln würde. Dieser Umstand allein verriet Parrish schon, dass Rebecca nach dem Tod ihrer Eltern kein besseres Zuhause hätte finden können.
Als sie das Haus verließen, zögerte Parrish noch einen Moment. Er schickte Radick zum Wagen.
»Ich muss Sie noch etwas über Rebeccas äußere Erscheinung fragen«, sagte er.
»Ihre äußere Erscheinung?«
»Ich wüsste gern, ob sie Nagellack benutzte.«
Helen Jarvis runzelte die Stirn. »Nicht dass ich wüsste. Ich meine, vielleicht hat sie ab und zu mal welchen benutzt, aber ich kann mich eigentlich nicht erinnern, sie je mit lackierten Nägeln gesehen zu haben. Warum?«
Parrish schüttelte den Kopf. »Und ihr Haar war hinten kurz geschnitten und lag vorn an ihrem Gesicht an, stimmt’s?«
»Nein, sie trug die Haare ziemlich lang. In der Mitte gescheitelt, und hinten hingen sie glatt herunter.«
»Okay«, sagte Parrish. »Jemand wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen, Miss Jarvis. Unglücklicherweise sind Sie vermutlich der einzige Mensch, der die Leiche offiziell identifizieren kann. Außerdem müssen Vorbereitungen für das Begräbnis getroffen werden.«
Helen Jarvis hob ein Taschentuch an ihr Gesicht.
»Gibt es jemanden, der vorbeikommen und Ihnen Gesellschaft leisten könnte?«
Helen wirkte einen Moment lang abwesend, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Ich komme schon zurecht«, sagte sie, und Parrish wusste, dass es nicht so sein würde.
Er streckte den Arm aus und berührte ihre Hand. Dann ließ er sie an der Tür zurück und ging zum Wagen.
Radick fuhr, und Parrish saß schweigend daneben. Sie würden einen Bericht für das Jugendamt schreiben müssen. Helen Jarvis, die sich die letzten fünf Jahre um Rebecca gekümmert und kein einziges Mal Anspruch auf finanzielle Unterstützung angemeldet hatte, würde wochenlang der Kritik derjenigen ausgesetzt sein, die ihr eigentlich hätten helfen sollen. Nach allem, was Parrish bisher von der Angelegenheit mitbekommen hatte, konnte er ihr keinen Vorwurf machen. Es war leicht, sie aus einer distanzierten Perspektive zu kritisieren. Sie hatte sich eingeredet, dass Rebecca bei Danny wäre. Rebecca war sechzehn Jahre alt, und Parrish konnte sich noch gut erinnern, wie seine eigene Tochter in diesem Alter gewesen war. An irgendeinem Punkt mussten die elterlichen Fesseln abgestreift werden. An irgendeinem Punkt musste man akzeptieren, dass die Welt dort draußen auf die jungen Leute wartete. Und wenn sie darin
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