Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
Verhungern und fror erbärmlich.
Das Tagesgericht war eine Art geheimnisvolles Fleischragout. Viele Möhren, wenig Substanz. Er aß es trotzdem. Danach fuhr er mit der U-Bahn von der Station Grand Street zur Jefferson Street und ging die Flushing Avenue bis zur Stewart Avenue zu Fuß. Dort bog er links ab und ging weitere sechs Blocks bis zur Scholes Street. Dann bog er rechts ab und erreichte schließlich das 91ste Revier an der Ecke Gardner Avenue, Metropolitan Avenue.
Die Kollegen erwiesen sich als hilfsbereit. Der diensthabende Sergeant verwies ihn an einen Uniformierten, der ihn in einen Raum führte, in dem die Akten der ungelösten Fälle aufbewahrt wurden. Um sieben Uhr saß Parrish schließlich in der Kantine des Reviers, die Akte Karen Pulaski vor sich aufgeschlagen.
Nichts schien zu fehlen. Datum, Uhrzeit und Bearbeitungsnummer der ersten Meldung; die Nummer des städtischen Krankenwagens, der sich auf den Weg gemacht hatte; Name, Einheit und Nummer des ersten Beamten am Tatort; die Fallnummer, der Name des ersten Mordermittlers – Richard Franco – und der Bericht des Coroners. Auch die Tatortfotos waren vorhanden und die Frage-und-Antwort-Formulare der ersten Haustürbefragungen; eine Liste mit den Beweismittelnummern für ihre Schuhe, ihre Kleidung, ihre Habseligkeiten; der Bericht des Kriminallabors sowie die Referenznummer für Haut-, Haar- und Blutproben des Mädchens, die für spätere DNA-Abgleiche genommen worden waren.
Karen war zum Zeitpunkt ihres Todes sechzehn Jahre alt gewesen. Den Tatortfotos nach zu urteilen, ähnelte sie Rebecca – ein frisches, jugendliches Gesicht, blonde Haare. Es gab ähnliche Abschürfungen, Blutergüsse und Würgemale an ihrem Hals und ihrer Kehle, doch war Karen nicht mit den Händen erwürgt worden. Parrish vermutete ein Seil von etwa sechs Millimeter Durchmesser, vielleicht auch ein Kabel.
Es gab Hinweise auf Geschlechtsverkehr kurz vor dem Tod, sogar Samenspuren, doch der DNA-Bericht und der Datenabgleich aus dem Januar 2008 ergaben keine Entsprechung in der New Yorker Datenbank. Karen war anscheinend ein Einzelkind gewesen. Ihre Eltern – Elizabeth und David Pulaski – wohnten acht oder neun Blocks weiter südlich auf der Troutman Street. Beide arbeiteten, der Vater als Bilanzbuchhalter, die Mutter als Rezeptionistin bei einem Kieferchirurgen in der Gegend. Soweit es sich nachvollziehen ließ, hatte das Opfer auf der Irving Avenue gegenüber dem Bushwick Park einen Bus bestiegen und war dann spurlos verschwunden. Zwei Tage später, um zirka sechzehn Uhr am Nachmittag des achtundzwanzigsten Dezember, wurde ihre Leiche in einem Müllcontainer hinter einem Hotel auf der Humboldt Street entdeckt. Detective Franco hatte gründliche Arbeit geleistet. Er hatte den Busfahrer ausfindig gemacht, später hatten sich mehrere andere Fahrgäste als Ergebnis eines Aufrufs an der 29 th Street gemeldet. Danach wurde es ruhig.
Karens Freundinnen, ihre Jungsbekanntschaften, sogar eine Gruppe von Mädchen, die sie aus einem nahe gelegenen Einkaufszentrum kannte – sie alle hatten anscheinend nicht helfen können, Licht auf die Geschehnisse zu werfen. Karens Schulnoten hatten deutlich über dem Durchschnitt gelegen, sie schien zu Hause glücklich gewesen zu sein, dazu hübsch und beliebt. Falls sie ausgerissen war, hatte sie es nicht weit geschafft. Die – zugegebenermaßen selten korrekte – Schätzung des Todeszeitpunkts deutete darauf hin, dass sie ihren letzten Atemzug am Abend des siebenundzwanzigsten zwischen acht Uhr und Mitternacht getan hatte. Bei dem Container, in dem man sie fand, handelte es sich nicht um den Tatort; dieser war allerdings nicht ausfindig gemacht worden. Es war durchaus üblich, dass bei der Bestimmung des Todeszeitpunkts Spannen von sechs, zwölf oder gar vierundzwanzig Stunden geschätzt werden mussten. Wenn nicht vor Ort die Lebertemperatur gemessen werden konnte, musste der Rechtsmediziner sich an der Leichenstarre orientieren. Die Leichenstarre ist in den kleineren Gesichtsmuskeln und den Fingerspitzen nach zwei Stunden erkennbar; allerdings setzt die Leichenstarre ein, verschwindet wieder, und kehrt dann über einen längeren Zeitraum zurück, sodass eine präzise Bestimmung des Todeszeitpunkts anhand der Leichenstarre zwei Mal in einer Spanne von mehreren Stunden durchgeführt werden muss. Bei einem Leichenfundort im Freien ist alles noch weit schwieriger.
Selbst bei einem innen liegenden Fundort beginnen die Tatortspuren, sich
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