Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
sah, wie das Lächeln des kleinen Mädchens verschwand. Dann hielt der Aufzug. Grace Langham und ihre missbilligende Mutter stiegen aus.
Bevor die Tür sich schloss, drehte das Mädchen sich um und hob grüßend die Hand.
Parrish winkte zurück, dann waren sie fort.
Um Viertel vor neun war Frank Parrish in seiner Küche. Um halb zehn hatte er die Flasche zu einem Drittel geleert und begnügte sich mit einer Dose Thunfisch, die er ganz hinten in einem Schrank entdeckt hatte.
18
Samstag, 6. September 2008
Parrish erwachte kurz vor neun Uhr. Der Himmel jenseits seines Badezimmerfensters zeigte sich in fünf verschiedenen Grauschattierungen und verlieh dem Tag, noch ehe er richtig begonnen hatte, eine Atmosphäre der Enttäuschung.
Er dachte an den Bericht, den er erledigt haben sollte, die Zusammenfassung der laufenden Ermittlungen. Squad Sergeant Valderas würde ihm die Leviten lesen, wenn der Bericht bis Mittag nicht fertig wäre. Aber Parrish konnte sich auf nichts anderes konzentrieren als auf Rebecca und – irgendwo im Hintergrund – auf Karen.
In der Nacht war er sämtliche Einzelheiten noch einmal durchgegangen. Das Problem mit der Klarsichtigkeit eines Trinkers bestand darin, dass die kurzen, brillanten Momente solcher Klarheit nicht überdauerten. Manchmal deswegen, weil es zu viel Verschiedenes zu bedenken gab, manchmal aber auch, weil eine einzelne Idee alle anderen Erwägungen an den Rand drängte. Die Explosion ganz oben auf einem Ölfeuer.
In seinen besten Stunden fand Parrish Klarheit, was seine Ehe betraf, die Desillusionierung in seinem Beruf, den Konflikt mit Caitlin, selbst seine eigene raison d’être . All diese Dinge erschienen einfach und unkompliziert – bis zum nächsten Morgen.
Manchmal verwandelte der Alkohol Gedanken in Träume, öfter noch in Albträume.
Er wusste, dass er sich verändert hatte, verbittert und sogar zynisch geworden war. Als wäre die Person, die er einmal gewesen war, irgendwo anders gefangen, als liefe sie in einem unbekannten Raum auf und ab – untätig, erwartungsvoll.
Er schien von einer merkwürdigen Pflicht besessen, in die düstersten und verstecktesten Winkel der Welt zu blicken. Und nicht nur das, sondern auch seine Hände in diese Winkel zu stecken und die Dunkelheit hervorzuziehen. Deshalb fühlte er sich wie auf der Stelle festgenagelt, während die Welt um ihn herum in Bewegung schien. Clare, Caitlin, Robert: Sie alle hatten sich weiterbewegt, nur er mühte sich in derselben alten Tretmühle ab.
Frank Parrish begann jeden Fall mit neuer Hoffnung. Einer Hoffnung, so strahlend wie Weihnachten. Jede Morduntersuchung war eine Reaktion. Nichts passierte, solange nicht jemand zu Tode gekommen war, und dann passierte alles auf einmal. Sobald vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden nach dem eigentlichen Vorfall verstrichen waren, wurden die Spuren kalt und trocken. Potenzielle Zeugen hatten noch einmal nachgedacht; der menschliche Instinkt zu erzählen, was man gesehen hatte, oder zumindest, was man glaubte , gesehen zu haben, wich nach und nach dem fundamentalen Impuls des Selbstschutzes. Besser nichts sagen. Besser, nicht in etwas verwickelt werden.
Manche Wahrheiten waren so gründlich verborgen, dass sie unantastbar wurden. Manche Fälle konnten niemals aufgeklärt werden.
Oft dachte er an die Überlebenden, die es irgendwie über die Schutzlosigkeit der Kindheit hinaus geschafft hatten; an die, die tief gestürzt waren und dabei nur Verwundungen und Schwindelgefühle davongetragen hatten. Menschen ertrugen den Schmerz zerbrochener Liebesbeziehungen, katastrophaler Ehen und zerstörter Familien. Zu viele Jahre hatte er damit zugebracht, zu häuslichen Auseinandersetzungen gerufen zu werden, bei denen Gewalt immer die erste Option war. Erst schlagen, später reden. Oder einfach immer weiterkämpfen und gar nicht reden. Verbrechen aus Leidenschaft, wegen sich bietender Gelegenheiten oder aus simplen Irrtümern heraus. Und dann überlebten die Betroffenen all das, bloß um von einem betrunkenen Autofahrer oder einem Räuber, dem sie zufällig in die Quere kamen, ausgelöscht zu werden. Von einem Moment auf den anderen hörten sie auf zu existieren. Nach der Untersuchung des Tatorts wurde das Absperrband aufgewickelt, die Feuerwehr spritzte den Bürgersteig ab, und die Welt ging weiter ihren üblichen Gang. Und oft genug waren diese Todesfälle vollkommen sinnlos. Morde mit böswilligem Vorsatz waren selten. Die Psychopathen und Serienmörder
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