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Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)

Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)

Titel: Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R.J. Ellory
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bildeten eine Minderheit. Die Gründe und Motive der meisten Morde waren simpel: Sie geschahen aus Liebe, wegen Geld, wegen nichts. Nur wenige Menschen starben, weil ihre Mörder Befriedigung dabei empfanden.
    Manchmal saß er in der U-Bahn und beobachtete die Menschen. Er betrachtete sie, wenn sie sich dessen nicht bewusst waren, und fragte sich, wer von ihnen das nächste Weihnachtsfest nicht mehr erleben würde. Während sie sich noch über die Komplikationen in ihrem Leben den Kopf zerbrachen, Möglichkeiten abwogen, Pläne schmiedeten, waren diese Überlegungen längst sinnlos und überflüssig. Noch vor ihrem nächsten Geburtstag würden sie tot sein.
    Vielleicht verriet diese Angewohnheit eine pessimistische Grundhaltung. Jedenfalls diente sie ihm dazu, die Zerbrechlichkeit der Dinge nicht aus den Augen zu verlieren. Vielleicht bestand ja die Hoffnung, dass er, je mehr er sich den Dingen stellte und sich dagegen abhärtete, immer weniger in die Dunkelheit selbst blicken und nur noch deren Schatten wahrnehmen müsste …
    Was Morde betraf, waren die ersten zwölf Stunden nach der Tat entscheidend. Jenseits dieser zwölf Stunden hörten die Toten auf zu sprechen. Spuren wurden vernichtet, Komplizen konstruierten ein möglichst einfaches und plausibles Alibi, Tatwaffen verschwanden in den Tiefen des East River oder des Maspeth Creek. Schnelligkeit war entscheidend, und doch stand die Schnelligkeit manchmal auch der Gründlichkeit und Aufmerksamkeit fürs Detail im Wege. Später dann, in Momenten stillen Nachdenkens, fand Parrish immer Zeit, sich zu fragen, was er hätte besser machen können. Was hatte Jackson Browne gesungen? Etwas darüber, nicht mit den eigenen Fehlern konfrontiert werden zu wollen, und dass solche Dinge nie vergessen werden könnten?
    Als Frank Parrish noch verheiratet gewesen war, ging es schlichtweg darum, alles beiseitezuschieben. Alkohol. Schmerztabletten. Er begann mit drei oder vier, dann folgte eine weitere und noch eine, bis das, was ihn gerade in Unruhe versetzte, wirksam unterdrückt war.
    Stell dich der Wirklichkeit, Frank. Niemandem ist es durchs Trinken je besser gegangen.
    Das Echo von Clares Stimme hallte in seinem Kopf nach.
    Dann waren die Kinder gekommen, Caitlin vor allem. Caitlin war sein Gewissen, seine Rettung, seine Buße gewesen, und doch stets auch ein Spiegel für seine Schuld. Caitlin war die tiefste Dunkelheit seiner Nächte und das strahlendste Licht seiner Tage gewesen. Das strahlendste Licht aber erzeugte stets die schwärzesten Schatten. Und diese Schatten …? Die Schatten seiner eigenen Unzulänglichkeiten als Vater? Etwas Schwärzeres konnte er sich nicht ausmalen.
    An diesem Morgen frühstückte er nicht. Kurz nach neun Uhr verließ er die Wohnung und ging zum Fahrstuhl. Wieder traf er auf Mrs Langham und Grace, und wieder wurde Grace zurechtgewiesen, weil sie ihn anstarrte.
    Grace allerdings ließ nicht davon ab, Parrish zu betrachten, so als versteckten sich sämtliche Geheimnisse des Erwachsenenlebens in den Falten seines Gesichts.
    Mrs Langham setzte einen peinlich berührten Gesichtsausdruck auf, so als wollte sie sagen: Es tut mir leid wegen meiner Tochter … ihr ist es nicht peinlich und Ihnen wohl auch nicht, mir aber aus irgendeinem Grund schon .
    Parrish lächelte ihr einfach zu, und als er zurücktrat, um sie aussteigen zu lassen, sagte er: »Tschüss, Grace. Einen schönen Tag wünsche ich dir.«
    Er ließ den Wohnblock hinter sich und nahm die U-Bahn zur Hoyt Street.
    Im Einsatzraum der Mordkommission stieß er auf die Detectives, die Wochenenddienst hatten – Paul Hayes, Bob Wheland, Mike Rhodes und Steve Pagliaro. Gemurmelte Begrüßungen, die üblichen Sticheleien, dann war Parrish im hinteren Teil des Raumes und betrachtete die Tafel mit den aktuellen Fällen. Daten der Ersteinsätze, zugeteilte Detectives, eine Reihe von Kästchen, in denen die nötigen Schritte abgehakt wurden – Tatortuntersuchung, Bericht des Coroners, Autopsie, Genitaluntersuchung, toxikologische Untersuchung, dazu ein Kästchen mit der Überschrift Verdächtige/r , das nur dann angekreuzt wurde, wenn jemand mit einer hinreichenden Aussicht auf eine Anklageerhebung verhört wurde –, und schließlich am hintersten Ende ein Feld mit einer Zahl, die mit jedem Tag, den der Fall ungelöst blieb, anstieg. Wenn der Fall gelöst wurde, erschien an dieser Stelle ein schwarzes »X«. Schwarze X waren es, die Lieutenant Myerson und Captain Haversaw im täglichen Bericht von

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