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Der Schrei des Eisvogels

Der Schrei des Eisvogels

Titel: Der Schrei des Eisvogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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zu. Für einen langen Moment schien sich daran nichts ändern zu wollen, bis sie leise wieder aufschwang.
    »Kommen Sie rein«, sagte Mrs. Toke.
    Sie war eine ausgesprochen kleine Frau, die sich wohl auf die Zehenspitzen stellen musste, um das Auge an den Spion zu legen, doch im Grunde fiel ihr Kleinwuchs weniger auf, als man vermutet hätte. Pascoe ertappte sich bei dem seltsamen Gedanken, dass man von Elfen schließlich nichts anderes als einen zierlichen Körperbau erwartete, und etwas Elfisches hatte sie ganz gewiss an sich. Gesichter wie dieses hatten in seinen Kinderbüchern zwischen Farnen hindurchgelugt, scheu und neugierig und vor allem wie aus einer anderen Welt. Sie blieb stehen, als er an ihr vorbei in das Wohnzimmer mit der niedrigen Balkendecke ging, machte zugleich aber den Eindruck, ständig in Bewegung zu sein, so wie Sauerklee in einer Frühlingsbrise.
    »Er ist ein guter Junge, auch wenn er die Welt nicht recht versteht.«
    Pascoe setzte sich in einen weichen Sessel, in dem er angenehm versank. Wenn sie vorhatte, ihre Antworten telepathisch zu übermitteln, konnte er sie ebensogut telepathisch um eine Tasse Tee bitten.
    Mrs. Toke betrachtete ihn mit einem Blick, der mindestens so sehr auf Geräusche wie auf Licht angewiesen schien.
    »Es gibt Dinge«, sagte Pascoe, »die muss man verstehen, Mrs. Toke. Wie zum Beispiel das Gesetz.«
    Er hielt den Eisvogel in der Plastiktüte hoch.
    Sie lehnte sich vor, um besser zu sehen, und sagte: »Oh, ist der schön!«
    »Schön in der Tat, und unter Artenschutz«, sagte Pascoe.
    »Und Sie glauben, mein Jason hat ihn getötet?«, fragte sie. »Da irren Sie sich. Das würde er dem Blaubart nicht antun.«
    Sie sprach im Brustton der Überzeugung, doch Pascoe ließ sich davon nicht beeindrucken. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass neunundneunzig von hundert Müttern selbst dann, wenn man sie mit einem Video konfrontierte, auf dem ihr kleiner Liebling eine Bank ausraubte oder ein Warenlager plünderte oder einfach nur bei Rot über die Ampel fuhr, felsenfest behaupteten: »Nein, nicht mein Tom oder Dick oder Clint. So etwas würde er nie tun.« Er wartete immer noch auf die Hundertste, die endlich sagte: »Ja, das ist der kleine Hosenscheißer. Warum bringen Sie ihn nicht für immer hinter Gitter?«
    »Aber er schießt doch Vögel, nicht wahr?«, sagte er.
    »Oh, ja. Für den Kochtopf. Nur für den Kochtopf. Aus welchem Grund sollte er unseren guten Blaubart abschießen?«
    Aus dem besten Grund der Welt, dachte Pascoe. Aus Liebe, aus holder Liebe.
    »Könnten wir wohl mal einen Blick in Jasons Zimmer werfen, wo wir schon mal hier sind?«, fragte er.
    Es wäre interessant zu sehen, ob er da wirklich ein geheimes Waffenarsenal hatte, wie Kee Scudamore vermutete.
    »Nein«, sagte die Frau.
    Das einzige, was Pascoe ein wenig erstaunte, war die Endgültigkeit, mit der sie es sagte. Sie sah nicht so aus, als würde sie sich auf die fehlende Rechtsgrundlage, den Durchsuchungsbefehl und dergleichen berufen, doch heutzutage machte das Fernsehen jeden zum besserwisserischen Amateuranwalt.
    »Keine Sorge«, sagte er. »Ich bin sicher, Jason ist bald zurück. Mr. Toke, Jasons Vater, ist er noch … hier?«
    Während er sprach, warf er Wield einen bedeutungsvollen Blick zu.
    »Dürfte ich mal Ihre Toilette benutzen?«, fragte der Sergeant und erhob sich.
    »Oben, erste Tür links«, sagte Mrs. Toke. »Jasons Zimmer ist gleich die daneben.«
    Die kleinen Tricks der Bullen hatten sich also schon bis zu den Elfen herumgesprochen, dachte Pascoe amüsiert.
    »Sie haben nach Toke gefragt«, fuhr die Frau fort. »Seit zehn Jahren tot. Ist von der Polizei umgebracht worden.«
    »Was?«
    »Sie waren hinter einem gestohlenen Auto her, haben sie behauptet. Haben ihn vom Fahrrad gerissen. Er war unterwegs auf Arbeitssuche. Davor war er oben in der Old Hall Wächter, aber als sie anfingen, die Ausgaben zu drücken, haben sie ihn rausgeworfen. Der Untersuchungsrichter sagte, es wär ein Unfall gewesen und dass niemand was dafür gekonnt hätte.«
    »Das tut mir leid«, sagte Pascoe hilflos.
    »Sie können ebensowenig dafür. Und jetzt hat er’s besser. Haben Sie’s gefunden?«
    Wield war heruntergekommen und stand in der Tür.
    »Ja, danke. Kommst du mal eben, Chef?«
    Pascoe stand schnell auf, bevor die Frau sich beschweren konnte. Die schlecht beleuchtete, enge Treppe knarrte ebenso wie der Treppenabsatz. Manches allerdings hatte sich in den letzten hundert Jahren geändert. Zum

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