Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
Vom Netzwerk:
fast!«, jammerte Maurice, während er sich demonstrativ sein Handgelenk rieb. »Er hat sich wie ein Verrückter aufgeführt!«
    Yoba sah seinen Bruder erstaunt von der Seite an. Chioke kauerte neben ihm auf der schmuddeligen Wolldecke und studierte selbstversunken die Risse in der brüchigen Lehmwand. Wusste er, dass sie ohne das Geld in der Tasche ihren Traum von einem anderen Leben niemals verwirklichen konnten?
    »Was macht ihr eigentlich so weit weg von zu Hause?«, erkundigte sich Sunday, der zweite Nigerianer. Er trug als Einziger eine Armbanduhr und einen goldenen Ehering. Dafür fielen ihm trotz seines Alters bereits die Haare aus. »Wissen eure Eltern überhaupt, dass ihr hier seid?«, fragte er. »Oder habt ihr keine Familie?«
    »Doch«, log Yoba schnell. »Haben wir! Aber wir wollen jemanden besuchen. Außerdem verkaufen wir Schuhe.«
    »Ihr verkauft Schuhe?« Sunday zog eine Augenbraue hoch.
    Yoba klopfte auf die Tasche. »Hier drin sind welche. Sie sind unser Kapital, deshalb wollte mein Bruder sie auch nicht hergeben. Allerdings sind nicht mehr viele übrig. Die meisten haben uns die Soldaten an der Grenze abgenommen.«
    Sunday und Babatunde murmelten etwas Unverständliches, ebenso wie Maurice und Kutu. Obwohl die beiden Letzteren aus anderen Ländern in den Niger eingereist waren, hatten sie ähnliche Erfahrungen gemacht.
    »Diese Aasfresser!«, schimpfte Maurice. »Mir haben sie mein Handy gestohlen!«
    »Und mir meinen Koffer mit allem, was drin war!«, ergänzteKutu wütend. »Sie haben ihn einfach behalten. Als ich mich beschweren wollte, haben sie mich zusammengeschlagen.«
    Babatunde betrachtete die Jungen mit einem eindringlichen Blick. »Händler also.« Er zupfte sich nachdenklich am Ohr. »Und deshalb seid ihr extra über die Grenze nach Agadez gekommen? Um Schuhe zu verkaufen?« Er schüttelte den Kopf. »Hier gibt es niemanden, der Geld für gute Schuhe hat.«
    Er sah Yoba prüfend in die Augen. Dessen Gedanken rasten. Er wusste, dass Babatunde Recht hatte. Niemand machte ein Geschäft mit drei Paar Schuhen. Also entschloss er sich nach einigem Hin und Her, mit dem Versteckspiel aufzuhören.
    »Wir wollen durch die Wüste«, erklärte Yoba, ohne aufzusehen. »Nach Europa.«
    Zu seiner Verärgerung brachen die vier jungen Männer in lautes Gelächter aus. »Ihr Jungs wollt durch die Wüste?« Sunday schlug sich vor Vergnügen auf die Schenkel. »Das ist gut! Glaubt mir, da seid ihr nicht die Einzigen!«, schnaufte er. »Jeder in Agadez will dahin!«
    Yoba horchte auf. »Wollt ihr etwa auch nach Europa?«
    »Klar!«, lachte Maurice. »Warum sollten wir sonst in diesem Kaff rumhängen? Wir warten nur auf eine Überweisung von Kutus Familie und meinen Eltern. Sie wollen uns Geld für die Weiterreise schicken.«
    »Und wie lange wartet ihr schon?«
    Kutu knetete seine großen Hände. »Fast sechs Wochen. Allmählich geht uns das Geld aus. Inzwischen essen wir nur noch Reis ohne alles.«
    »Aber wir schaffen das!«, ergänzte Sunday voller Inbrunst. »Wir haben einen Schwur geleistet, weißt du? Wir vier halten zusammen! Egal was kommt! Deshalb schaffen wir es!«
    Seine Freunde murmelten zustimmend.
    »Und was ist mit euch?« Maurice schnippte nebenbei eine Fliege von seinem wertvollen Michael-Jackson-T-Shirt. »Die Sahara ist nichts für Kinder. Außerdem kostet die Fahrkarte ’ne Menge Cash. Habt ihr denn so viel?«
    »Nein, leider nicht!«, schwindelte Yoba. Er war auf der Hut. »Aber wir treffen einen Verwandten von uns. Der gibt uns was für die Weiterfahrt.«
    Die Antwort schien Maurice und seine Gefährten zufriedenzustellen. Dass einem unterwegs das Geld ausging, war nicht ungewöhnlich. Schließlich warteten sie selbst auf Geld für die Weiterreise. Yoba hingegen überlegte, ob dies ein weiterer Wink des Schicksals war. Die vier Freunde wussten, wie man nach Europa kam. Bessere Retter hätte er sich gar nicht wünschen können.
    »Was ist eigentlich mit deinem Bruder?«, wollte Babatunde von Yoba wissen.
    Chioke hatte die Arme um seinen schmächtigen Körper geschlungen und schaukelte wieder mit seinem Oberkörper vor und zurück. Die Fliegen, die in seinen Mundwinkeln hingen, um an seinen Speichel zu gelangen, schien er gar nicht zu bemerken.
    »Mein Bruder ist krank«, erklärte Yoba, während er die Fliegen aus Chiokes Gesicht verscheuchte. »Deshalb müssen wir nach Europa. Da gibt es Ärzte, um ihn wieder gesund zu machen.«
    »Babatunde ist auch Arzt«, erklärte Maurice mit

Weitere Kostenlose Bücher