Der Schrei des Löwen
Ein bisschen Hilfe von den Geistern konnten Chioke und er jetzt gut gebrauchen.
Mit gemischten Gefühlen hockte sich Yoba wieder neben seinen Bruder auf den staubigen Boden. Chioke hatte brav auf ihre mit Proviant gefüllte Tasche aufgepasst. Die billigen Plastiksandalen, die Yoba einem Jungen auf dem Weg in die Moschee abgehandelt hatte, waren zwar hässlich, aber Chi-Chi schien sich mit ihnen abgefunden zu haben. Seine neuen Adidas-Turnschuhe waren bei ihrer Ankunft in Agadez ja leider Beute der Straßengang geworden.
Allmählich wurde Yoba unruhig. Von Babatunde und seinen Freunden war noch immer nichts zu sehen. Wie Yoba vermutete, waren sie auf dem Markt damit beschäftigt, sich mit dem Nötigsten einzudecken. Dafür trudelten an ihrer Stelle ständig neue Mitreisende ein. Nachdem sie ihre beschrifteten Wasserkanister ebenfalls sorgfältig an der Seitenwand befestigt hatten, setzten sie sich stumm mit ihrem Gepäck neben den Laster. Keiner sagte ein Wort, aber alle wussten, dass sie für die nächsten zwei Wochen eine Gemeinschaft auf Leben und Tod bilden würden.
Fast alles waren junge Männer. Yoba entdeckte lediglich zwei Grauhaarige und eine Frau mit einem schreienden Baby. Als er nach einer Stunde durchzählte, hatten sich bereits einhundertsiebenunddreißig Personen eingefunden. Sie saßen dicht gedrängt neben dem Lkw und warteten geduldig auf das Auftauchen der Fahrer.
Von Babatunde und den anderen fehlte hingegen weiter jede Spur. Allmählich machte sich Yoba ernsthaft Sorgen um sie. Auch als endlich die beiden Fahrer erschienen – es handelte sich um einen dicken Tunesier und einen Libyer –, ließen sie sich noch immer nicht blicken. Stattdessen wurde die Ladefläche des Lasters mit gefüllten Hirsesäcken und Kartons ausgelegt. Nachdem das Beladen abgeschlossen war, befahl der dicke Tunesier den Wartenden, sich in einer Reihe aufzustellen. Er wollte die Tickets einsammeln und die Passagierliste abhaken, aber als zwei Ghanaer hinter seinem Rücken den Laster auf eigene Faust enterten, gab es kein Halten mehr. Jeder hatte Angst, keinen guten Platz mehr für sich und sein Gepäck zu bekommen, und so stürmten einhundertsiebenunddreißig Menschen gleichzeitig auf den Lastwagen.
Yoba war mittendrin. Mit der Provianttasche unter dem Arm und seinem Bruder an der Hand kletterte er auf den Lastwagen. Er wurde gestoßen, geschubst und geschlagen, aber wie durch ein Wunder schaffte es Yoba, einen Karton für Chioke und sich zu erobern, auf dem sie stehen konnten. Rostige Metallbügel, die ursprünglich zur Befestigung einer Abdeckplane gedacht waren, überspannten die Ladefläche. Jetzt dienten sie als Gepäckträger und Sitzplatz. Wer keinen Platz mehr auf der Ladefläche fand, dem blieb nichts anderes übrig, als sich auf einen der noch unbequemeren Metallbügel in luftiger Höhe zu setzen.
Der Laster ächzte unter dem Gewicht der Reisenden und wankte bedrohlich. Das bunte, an den Außenwänden festgezurrte Gepäck und die Wasserkanister bildeten schnell einen mehrere Lagen dicken Panzer um den Lkw, auf dem sich ebenfalls Passagiere niederließen. Auf der Ladefläche war die Enge besonders qualvoll. Die verschwitzten Körper klebten aneinander und jeder versuchte sich irgendwie in eine halbwegs bequeme Stehposition auf den Kartons und Hirsesäcken zu manövrieren.
Der dicke Fahrer zeterte und schimpfte, weil es ihm nicht gelungen war, das Besteigen des Lasters in geregelte Bahnen zu lenken. Er war einfach überrannt worden. Fluchend ließ er den Dingen ihren Lauf. Was kümmerte es ihn, ob sie vollständig waren oder nicht. Kurz darauf startete sein Kollege den Motor und der hoffnungslos überladene Lkw erwachte mit einem ohrenbetäubenden Lärm und einer dicken schwarzen Rußwolke aus seinem Auspuff zum Leben.
Plötzlich sah Yoba in dem großen Gedränge auf dem Autohof Babatunde. Er kam zusammen mit Sunday und Kutu aus dem Büro des libyschen Menschenschleusers. Zu seiner Überraschung gingen sie aber nicht zum Lastwagen, sondern in die andere Richtung. In diesem Moment setzte sich der Lkw in Bewegung. Alles schaukelte, und als der Fahrer das Lenkrad einschlug, um die anderen Lastwagen im Schritttempo zu umrunden, rechnete Yoba fest damit, das turmhohe Ungetüm würde gleich umkippen. Er drängelte sich an den Rand der Ladefläche und schrie, so laut er konnte: »Babatunde!«
Babatunde drehte sich um, sagte etwas zu seinen Freunden und lief dann hinter dem noch im Schritttempo über das Gelände
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