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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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die Sinne zu rauben wie die ungeheure Weite. Dabei würde es noch Tage dauern, bis sie das eigentliche Sandmeer erreicht hatten. Umso mehr wünschte er sich, die Fahrer würden endlich eine Pause einlegen. Seine Blase drohte allmählich zu platzen und ganz sicher war er da nicht der Einzige. Das konnte er unschwer an den verkniffenen Gesichtern in seiner Nähe ablesen. Aber der Fahrer und sein Kollege fuhren stur weiter. Sie wechselten das Steuer sogar während der Fahrt, was bei dem Schneckentempo auch keine Kunst war. In seiner Not überlegte Yoba schon, ob er nicht während der Fahrt kurz abspringen sollte, um zu pinkeln. Den nur im Schritttempo fahrenden Laster wieder einzuholen hätte er sich zugetraut. Aber dann verwarf er den Gedanken wieder. Wenn Chi-Chi sah, wie er während der Fahrt von der Ladefläche sprang, würde er bestimmt Angst bekommen. Er kannte Chioke. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als weiterhin die Zähne zusammenzubeißen. Aber eins war klar: Lange würde er ganz sicher nicht mehr durchhalten.

25.
    Julian sah das Unheil kommen. Das kleine Mädchen jagte hinter ihrem Bruder her, der Mann am Frühstücksbuffet drehte sich um, es gab einen Zusammenstoß und schon verteilte sich das Rührei auf den Bodenfliesen aus makellosem italienischem Marmor. Im Frühstücksraum des Hotels herrschte Hochbetrieb. Überquellende Teller wurden kreuz und quer durch den Raum balanciert und die Hotelangestellten schleppten unermüdlich Nachschub herbei. Die Reste auf den zum Teil halb vollen Tellern wurden stillschweigend in einer extragroßen Plastiktonne entsorgt.
    Julian reckte den Hals und sah sich um. Seine Eltern und seine Schwester saßen natürlich in der hintersten Ecke.
    »Ich dachte, wir frühstücken zusammen«, stellte sein Vater zur Begrüßung fest.
    »Du bist wirklich spät dran«, fügte seine Mutter vorwurfsvoll hinzu. »Wir sind längst fertig.«
    Auf dem Tisch stapelten sich Teller mit Essensresten und zerknüllten Servietten.
    »Ich musste meine Shorts wechseln«, murmelte Julian kurz angebunden. »Mir ist ein Espresso umgekippt.« Den Auftritt der beiden Bodybuilder-Prolls erwähnte er lieber nicht.
    »Du kannst ja abräumen!«, gähnte Frederike gelangweilt. Vor lauter Sonnenöl glänzte sie wie eine eingelegte Olive. »Ich geh jedenfalls an den Strand. Sonst sind wieder alle Liegen besetzt.«
    Sie nahm ihr Handy und schlurfte in ihren Badelatschen durch das Gedränge davon. Julian setzte sich auf den frei gewordenen Stuhl.
    »Wenn du dich beeilst, gibt es noch was von dem Rührei!«, ermunterte ihn seine Mutter. Sie war sichtlich um den Familienfrieden bemüht.
    »Hab keinen Hunger«, erwiderte Julian und streckte die Füße von sich.
    »Wir machen heute Nachmittag einen Ausflug«, meinte Julians Vater und musste laut aufstoßen, was ihm sofort einen tadelnden Blick von seiner Frau einbrachte. »’tschuldigung. Das muss an dem Schafskäse liegen.«
    Seine Mutter berührte Julian sanft am Ellbogen. »Wir dachten, das wäre vielleicht das Beste, um den gestrigen – äh – Vorfall zu vergessen.«
    »Ein bisschen Ablenkung würde dir bestimmt nicht schaden«, sprang ihr sein Vater zur Seite. »Wir könnten zum Beispiel nach Palermo fahren oder ein paar griechische Ruinen besichtigen.«
    »Ich hab schon was vor«, entgegnete Julian kühl und schüttelte die Hand seiner Mutter ab.
    »Ach ja?« Sein Vater hob eine Augenbraue. »Und was, wenn ich fragen darf?«
    »Ich will nach dem Frühstück in die nächste Stadt.«
    »Und weshalb?«
    »Ich muss zur Küstenwache.« Julian rutschte auf seinem Stuhl herum.
    »Was willst du denn da?«, erkundigte sich seine Mutter sofort. Sie klang beunruhigt, so als würde sie nichts Gutes ahnen.
    Julian entschied sich für den Frontalangriff. »Wenn ihr es genau wissen wollt: Ich muss herausfinden, ob ein afrikanischer Junge in meinem Alter auf dem gesunkenen Flüchtlingsboot war.«
    Seine Mutter machte große Augen. »Aber was kümmert dich das?«
    »Das wüsste ich ebenfalls gerne«, ergänzte sein Vater. »Sonst interessierst du dich doch auch für nichts und niemanden.«
    »Ich will es einfach wissen, okay?«, blaffte Julian zurück.
    »Ich verbitte mir diesen Ton!« Sein Vater drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Wir sind nur wegen dir hier, also reiß dich gefälligst zusammen!«
    » Wegen mir!? « Julian lachte höhnisch.
    »Ja, damit du endlich zur Besinnung kommst!«, schimpfte seine Mutter. »Das weißt du genau. Hör auf dein Leben zu

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