Der Schrei des Löwen
»Wenn keiner was über die Lebenden weiß, dann vielleicht über die Toten!«
30.
Ein kühler Schatten streichelte Yobas Gesicht. Der blaue Turban des Dschinns verdunkelte die Sonne.
»Du hast Glück, mein Junge«, sagte der Wüstengeist, während er sich über ihn beugte. »Allah schenkt dir dein Leben!«
Yoba wusste nicht, ob er sich fürchten oder erleichtert sein sollte. Den Tod hatte er sich jedenfalls ganz anders vorgestellt. Komisch fand er nur die vielen Dromedare, die offenbar das Paradies bevölkerten. Yoba hörte ihr Blöken und riechen konnte er sie auch.
Plötzlich benetzte ein Wassertropfen seine wunden Lippen. Gierig leckte er ihn ab und sofort schrie sein ausgedörrter Körper nach mehr. Aber der Dschinn mit der Wasserflasche war grausam, er gab ihm immer nur wenige Tropfen auf einmal. Wenn Yoba die Kraft gehabt hätte, hätte er diesem verfluchten Geist die Flasche aus der Hand gerissen. Dann spürte er, wie er von unsichtbaren Händen hochgehoben und davongetragen wurde. Jemand legte ihn in den Schatten eines Dromedars in den Sand und bestrich seine Arme und sein Gesicht mit einer schmierigen Paste. Danach hüllte man ihn vorsichtig in ein riesiges Tuch.
Der Dschinn mit dem Turban prüfte den Stand der Sonne und rief seinen Geistergefährten etwas zu. Dabei gab er jede Menge kratzige Laute von sich. Sofort löste sich die Dromedarreihe auf. Den brüllenden Tieren wurden mit einem Strick die Vorderhufe zusammengebunden, dann zwang man sie in die Knie. Unter lauten Kommandos wurden sie von ihrer Last befreit und versorgt. Nach getaner Arbeit setzten sich die Dromedarführer in den Sand und kochten auf einem mitgebrachten Gaskocher eine Kanne Tee.
Von all dem bekam Yoba nur wenig mit. Wie aus weiter Ferne nahm er die fremdartigen Geräusche um ihn herum wahr. Der freundliche Dschinn mit dem runzeligen Gesicht blieb die ganze Zeit an seiner Seite. Er schob seine Hand in Yobas Nacken und setzte ein Glas an seine Lippen. Die plötzliche Wärme des Tees erfüllte Yoba mit neuem Leben. Er öffnete die Augen und versuchte seinen Retter anzusehen.
»Danke«, röchelte er. Dann schlief er in den Armen des Wüstengeistes ein.
Wie lange er geschlafen hatte, konnte er nicht sagen. Als Yoba erwachte, lag er festgebunden und in Tücher gehüllt auf einem schaukelnden Dromedar. Neben ihm ging der alte Dschinn und führte das Tier am Halfter. Yoba blinzelte verwirrt in die Sonne. Ihrem Dromedar folgte eine Reihe von weiteren, schwer beladenen Tieren. Es mussten weit mehr als hundert sein und alle waren durch Stricke miteinander verbunden.
»Wo … wo bin ich?«, stammelte Yoba. Sein Kopf drohte jeden Moment zu platzen.
Der Dschinn sah im Gehen zu ihm hoch. Sein Gesicht war fast vollständig hinter dem blauen Tuch seines Turbans verborgen. Nur ein Sehschlitz war frei geblieben, durch den ihn zwei listige Augen anblitzten.
»Du hast einen gesunden Schlaf, Junge«, sagte der Dschinn in brüchigem Haussa. Er trug eine knöchellange Dschallaba und Yoba konnte ihn nur mit Mühe verstehen, denn der Stoff des Turbans dämpfte seine Stimme. Ohne anzuhalten, band er den Strick los, der Yoba auf den gleichmäßig schwankendenHirsesäcken auf dem Rücken des Dromedars festgehalten hatte.
Yoba richtete sich auf und krallte sich an den Säcken fest. »Wie … wie komme ich hierher?«
»Wir haben dich gefunden, Junge.« Der Dschinn redete mit rauer Stimme. »Du warst so gut wie tot. Die Geier haben uns den Weg gewiesen.«
Erst allmählich kehrte Yobas Erinnerung zurück. Und mit ihr der Durst. Der erbarmungslosen Sonne nach zu urteilen musste es fast Mittag sein. Als hätte der Dschinn seine Gedanken erraten, löste er einen mit Wasser gefüllten Lederbeutel vom Hals des Dromedars und reichte ihn hoch. Yoba trank in dankbaren, gierigen Schlucken.
Wie sich herausstellte, war er von einer der Salzkarawanen aufgelesen worden, die seit Jahrhunderten durch die Sahara zogen. Sie brachten Lebensmittel und Waren zu den Oasen und auf dem Rückweg transportierten sie das Salz der Wüste zu den Märkten im Süden. Yobas Retter war auch keineswegs ein Geist. Sein Name war Mustafa und er gehörte zum Volk der Tuareg. Fast sein ganzes Leben zog er schon als Karawanenführer, als Madugu, durch die Wüste, aber noch nie war er über einen halb verdursteten Jungen gestolpert. Der alte Tuareg hielt Yobas wundersame Rettung für ein Zeichen Allahs. Yoba hingegen war es ziemlich gleichgültig, ob der Allmächtige bei seiner Rettung
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