Der Schritt hinueber - Roman
Kolja-Geschichte! Ich weiß nicht mehr, was mir geschieht, dachte sie. Gewiß sprach auch sie manchmal von Hoffnungen, oh, sie machte sich welche! Aber sie glaubte nicht recht daran. Und sie wußte nicht einmal, woher das kam in ihr, aber sie beobachtete sich längst selbst dabei: in ihre Natur war, als hätte mans ihr eingeimpft, ein seltsamer Stoff aus Ahnungen und Zweifeln gedrungen. Es war etwas wie erhöhte Temperatur und Abwesenheit von ihrem eigenen Leben, Fieber hätte sie es genannt, wenn es nur den Körper befallen hätte, aber es war mehr, war anders. Zuweilen, wenn sie an ihren Mann dachte, kam es ihr so vor, als habe sie ihr Haus verlassen, längst ehe es ihr weggenommen worden war – und habe auch ihr gegenwärtiges Quartier und alle zukünftigen Aufenthalte schon verlassen. Heute, an diesem Morgen, war es der Bemelmanhof, morgen würde es wieder ein anderer Ort sein; würde sie ein Kind bekommen oder nicht – und wenn es geschah, würde es auch nicht ihr selber geschehen, sondern einer Person, die noch nicht vorhanden war, – zu der sie vielleicht erst werden würde? aber was hieß hier „werden“ … Und davon war längst etwas schon herausgekommen: Tod. Heimsuchung, Tod. Sie schmeckte es in ihren Träumen oder wenn sie aufwachte oder auch in heiteren Stunden, es konnte gar nicht anders kommen. Sie dachte: ich bin auf der Spur, ich brauchte dem bloß immer nachzugehen. Immer schon hatte diese Ahnung sie begleitet,
daß alles nicht so fest war, wie es aussah,
Haus und Dasein, Gewinn und Verlust,
Besitz und Verpflichtung,
Wohlsein und Elend, gut und schlecht,
das veränderte sich wie Duft,
es hatte immer zweierlei Bedeutung
oder noch viele, mehr, noch unbekannte Weisen.
An diesem Tag freilich ging es ihr wieder einmal durch Mark und Bein, Verlust hier oben; aber es hatte so kommen müssen, und hatte sie es nicht längst vorausgesehen, daß sie wieder zurückkehren würde, ins Dorf hinunter, zu ihrer Fini? Nur: zum erstenmal konnte sie sich zusehen bei einer solchen Veränderung.
Es war dann noch Morgen gewesen, und sie hatte den Handwagen durch den Wald gezogen, sie hatte sich plagen müssen, war schlecht vorangekommen in dem mahlenden Sand, der kleine Junge hatte in den Kissen gesessen. Dann war Mittag gewesen, mühseliges Wandern und Empfang durch Fini, die alles gottlob so schnell verstand. Und nun war der Abend, endlich der Abend; und das Haus, ihre alte Villa, der Kapitän und die Villa.
Sie dachte, einmal war ich hier daheim. Aber es machte ihr nichts aus, jetzt wieder hier hineinzugehen, nicht daheim, als entfremdete, geduldete, unerwünschte Person.
Abends halb neun, und Axel war noch nicht unterwegs mit seinen schrecklichen Bildern, sie lagen noch in Bruchstücken herum und setzten sich erst zusammen in ihm, er saß noch in der Mühle – da trat sie in das ehemalige Wartezimmer, in dem aufmunternde Sprüche hingen, „Wo immer der Bruder zum Bruder steht“. Sie sah dahinter die Ordination, aus der nun freilich der Drehstuhl und alles Zubehör entfernt waren. Der Kapitän hatte sich die Ordination als Kommandantur eingerichtet, er hatte auch die anderen Zimmer verändert. Sie sah das Sofa, überzogen von blauem Sternmusterstoff, darauf er schlief; den großen Tisch, darauf er aß; das waren alles ihre eigenen Möbel, ihr bekannt und einstmals von ihr gebraucht, – aber da war nun nichts mehr dergleichen; der Kapitän war da.
Sie mußte warten, sie dachte an ihre Geschichte mit ihm. Aber auf einmal kam ihr alles daran höchst unwahrscheinlich vor. War denn das damals wirklich so gewesen, oder war etwas geschehen und zugleich nicht geschehen? Sie hatte eine sonderbare Vorstellung, als wären sie, die Beteiligten, andere Personen gewesen als die, die für gewöhnlich da waren, eine Vorstellung von nicht mitteilbarer Erfahrung; – alles, woran sie sich erinnern konnte, war ein im Grund einfacher und brutaler Vorgang, ähnlich wie mit Kolja, nur daß dabei nicht ein durch Betrug verwirrter junger Mensch mitgespielt hatte, sondern ein großer, grauhaariger Mann, der allmächtige Kapitän. Damals, er hatte ihr lange keine Ruhe gelassen und sie endlich mit Drohung erpreßt, daß sie wenigstens mit ihm nachtmahlte.
Sie hatte gewußt, was das bedeutete. Es gab am Bahnhof ein Lager, und dort war eine junge Lehrerin, eine Flüchtlingin, eine schwarzhaarige Person, die ein wenig schielte, und sie hatte nicht den besten Ruf. Einmal hatte der Kapitän auch nach dieser geschickt, und sie
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