Der Schritt hinueber - Roman
sie hier stand, so viel Schatten um Augen und Stirn! Aber gegen Fini behauptete sie sich nun. Nein, auch keinen Hut, sagte sie und suchte ein Kopftuch hervor, für die Landstraße mußte man doch ein Kopftuch haben, besonders, wenn man mit dem Lastauto fuhr! Und als Fini ihr ein Paar Strümpfe hinlegte, sagte sie: Nein, auch keine Strümpfe, wenn sie kaputtgehen, neue kriege ich nicht so bald. Wer trägt heute Strümpfe!
Es war lauter Eigensinn in ihren Reden, Fini konnte sich nicht vorstellen, daß man ohne Strümpfe in die Stadt ging, und Susanna erschien ihr ein wenig kindisch, so als zöge sie nicht sich selber an, sondern richte eine Puppe her nach ihrem Geschmack. Aber dann schwieg sie. Sie sah Susanna in ihrem „weißen Kleid“; es war nur das glatte dünne Stück Stoff, einfach geschnitten, aber an Susanna schimmerte es wie eine durchsonnte Wolke, wie Blendung aus gebrochenem Glas oder Glimmer oder Faser von Schiefer. Fini staunte, wie schön ein Kleid sein konnte und was es aus einem Menschen machen konnte, aber nun kam es ihr auch unheimlich vor, wie Susanna davon plötzlich verändert aussah, vornehm, abwesend, fremd, und jemand war, der in die kleine Stube nicht mehr paßte.
Wenn Ihnen nur nichts passiert, sagte sie und schluchzte, ach, müssen Sie denn wirklich gehen, ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan, es muß ja sein, und es ist ja auch ein Glück, daß Sie den Passierschein haben! Und hier habe ich etwas eingepackt, Butterbrote und Äpfel und ein Stück Speck für Herrn Jorhan, hier im Einkaufsnetz, können Sie es schleppen? Aber vielleicht erwischen Sie wirklich ein Auto, und es ist nicht so schlimm! Den Kleinen will ich schon besorgen, und vielleicht gehn wir nach Mittag auch in den Wald, in den Schatten!
Das Räsonieren beruhigte sie wieder, sie trocknete sich die Tränen. Susanna trat schnell durch die Tür. Am Brunnen drehte sie sich noch einmal um. Fini sah ihr Gesicht, es war etwas darin, das nicht mehr antwortete, das auch nicht Abschied nahm.
Eine Frau geht nicht so schnell, besonders wenn sich für sie diese Schraube dreht: das ist der Tag, an dem ich hinüber muß, und Susanna dachte wieder, ich habe mich nicht richtig ausruhen können, ich habe ja auch kein Auge zugetan, schon seit die Hähne gekräht haben nicht, und da war es noch dunkel, ach, ich bin viel zu müde.
Sie kam an den Dorfrand und sah die grünen Fichtenwipfel, die sich über Nacht ganz frisch gehalten hatten. Sie spürte ein unendliches Verlangen, hier schon zu bleiben. Wenn ich so wäre wie eines von diesen künstlichen Bäumchen, dachte sie, hier bei dem Kapitän, ich würde in der Erde stehen, ich würde Wurzeln bekommen und auch Laub. Da hätte ich endlich Ruhe. Und dann würden mir auch alle glauben, daß ich nichts anderes will als Frieden und Ruhe, und würden erkennen, wie ich es gemeint habe.
Einmal werde ich es überstanden haben, dachte sie und ging in ihrem weißen Kleid als ein heller Fleck über die ebene Wiese auf den Wald zu. Die Leute, die auf den Feldern arbeiteten, sahen sie von weitem, erkannten sie aber nicht, und auch Bemelman, der ihr mit seinem Milchfuhrwerk begegnete, blieb nicht stehen, er betrachtete sie nur verwundert; und ihr wäre es nun peinlich gewesen, mit ihm zu reden. So kam sie an ihm vorbei und tauchte in den Wald ein und da sah nun auch sie, ähnlich wie Axel, das Nahe, das sich vor ihren Augen nach hinten bewegte, als ob der Umschwung der Erde es zurücktriebe, die hohen Kiefernwipfel, als ob sie kreisten, die langen Nadeln, die sich wie Drahtquasten mit feinem Laut aneinander rieben, die Zeile der Espen, die im stillen Waldbrodem zitterten, der Unterschied war nur, daß sich für Susanna eine andere Schraube drehte: dies ist der Tag und du mußt gehen und es gutmachen, – das wurde ihr erst allmählich klar. Also ging sie nicht einfach dahin mit Geflirre von Laub und Moder und Pilzen und Schatteneilanden über dem Weg, einem Geschlinge von Schatten, wie die Buchenäste sich spreizten und die runden Blätter weiblich hersahen, sondern ging, anders als Axel, nicht, um die Wahrheit zu erforschen, sondern um die Wahrheit zu bekennen. Sie sagte: Ich weiß nicht, ob ich es kann! – Die Schraube drehte sich: Du mußt schneller gehen, dann ist es auch schneller vorbei! – Aber ich kann nicht schneller, bitte, ich kann nicht!
Trotzdem war das nun schon „Hinübergehen“ für sie.
Es hieß jetzt nicht mehr: dies ist der Tag, an dem du hinüber mußt, sondern: dies ist der
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