Der Schuldige: Roman (German Edition)
fair. Irene wird dem Einhalt gebieten. Ich wollte dich nur darüber in Kenntnis setzen, weil ich denke, Bens Mum und dann die Kinder, die du kennst, werden für uns alle vor Gericht schwer im Auge zu behalten sein, aber es ist nicht der Hauptteil ihres Beweismaterials. Du musst nur versuchen, dich dadurch nicht aus der Fassung bringen zu lassen, okay?«
Sebastian nickte.
»Wir legen jetzt endgültig die Einzelheiten deiner Aussage fest. Bist du sicher, dass du sonst nichts weiter weißt, was du mir erzählen möchtest?«
Sebastian blickte einen Moment zur Seite, dann schüttelte er heftig den Kopf.
»Okay.«
»Werde ich eine Aussage machen müssen?«
»Nein. Im Moment ist der Plan, dass du nicht aussagen musst. Es ist nicht die angenehmste Erfahrung, und ich bin sicher, das Gericht wird streng genug sein, auch wenn es nur beobachtet. Aber wir müssen warten und sehen, wie die Sache läuft. Irene wird vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden, dass sie möchte, dass du aussagst, aber darüber sprechen wir dann mit dir, falls es dazu käme. Okay?«
»Okay.«
»Den Hauptteil ihrer Beweismittel werden die gerichtsmedizinischen Ergebnisse ausmachen, und die werden wahrscheinlich viel Zeit in Anspruch nehmen. Vieles von dem, was vor Gericht passiert, ist langweilig und wissenschaftlich und mag nicht viel Sinn haben, aber du musst versuchen, wachsam zu bleiben. Man wird dich beobachten.«
Sebastian setzte sich plötzlich auf. Es war, als ob ihn die Vor stellung erregte, beobachtet zu werden. Er faltete die Hände und lächelte Daniel mit funkelnden Augen an. »Echt?«, sagte er. »Mich beobachten?«
Daniel starrte den Jungen an, und Sebastian hielt seinem Blick stand. In den Augen des Jungen lag keine Scham. Kein Gefühl dafür, dass das, was er gesagt hatte, unangemessen war. Aber er war schließlich ein Kind.
»Deine Eltern haben dich gestern besucht, stimmt’s?«
Sebastians Schultern sackten nach unten. Er nickte, den Blick auf den Tisch gerichtet.
»Ich weiß, es ist schwer. Du vermisst sie sicher.«
»Ich denke, Sie haben Glück«, sagte Sebastian und sah Daniel in die Augen.
»Warum?«
»Sie hatten keinen Dad.«
Daniel atmete langsam ein. »Na ja, weißt du, manchmal können Freunde genauso übel sein«, sagte er.
Sebastian nickte. Daniel war sich sicher, dass der Junge verstand.
»Ich möchte hier schnell raus, damit ich mich um sie kümmern kann. Manchmal kann ich ihn aufhalten.«
»Ich weiß, wie du dich fühlst«, sagte Daniel. »Auch ich wollte früher meine Mum immer beschützen, aber du musst dich um dich selbst kümmern. Du darfst nicht vergessen, dass du der kleine Junge bist und sie die Erwachsene.«
Es war ein Satz, den Minnie gesagt haben könnte.
Nach Feierabend schlenderte Daniel, die Hände in den Hosentaschen und das Kinn gesenkt, ins Crown an der Ecke seiner Straße. Es war inzwischen Herbst, und Kühle lag in der Luft. Daniel wäre fast umgekehrt, um sich sein Jackett zu holen, hatte aber keine Lust, noch mal die Treppe hinaufzusteigen.
In der Bar war es hell und warm, ein Holzfeuer prasselte in der Ecke, und es roch nach Kneipenessen und feuchtem Holz. Daniel bestellte ein Bier und setzte sich an die Bar, dann drehte er das Glas vor sich herum und wartete, bis der Schaum auf dem Bier sich setzte. Normalerweise las er nun die Zeitung, heute aber nicht. Ihm hingen Zeitungen zum Hals raus; jede, zu der er griff, hatte Sebastian in der Schlagzeile, zwar ohne Namen, aber als »Engelmörder« bezeichnet, oder aber er wurde indirekt in Meinungsartikeln über die »kaputte Gesellschaft« erwähnt. Ben Stokes war bereits unsterblich geworden, ein Märtyrer der Gutherzigkeit, ja der Kindheit selbst. Er war nie schlicht Benjamin Stokes, acht Jahre alt, sondern Little Ben oder Benny , immer auf dieselbe Art und Weise dargestellt: ein Schulfoto, zwei Jahre vor seinem Tod aufgenommen, zwei fehlende Schneidezähne und Haare, die auf der einen Seite seines Kopfes in die Höhe standen. Er war der Engel aller Engel, folglich musste aus Sebastian der Teufel werden.
Die ständige Medienbegleitung war neu für Daniel. Einige von den Jugendlichen, die er verteidigt hatte, waren nicht viel älter als Sebastian gewesen und hatten ein brutaleres Leben geführt, aber für die Presse waren sie nahezu unsichtbar gewesen. Ihren Fällen wurden ein paar Zeilen am Rand der Seite, nahe am Falz, gewidmet. Welche Rolle spielten sie? Sie waren nur Kids in Gangs, die ihre eigenen Viertel
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