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Der Schuldige: Roman (German Edition)

Der Schuldige: Roman (German Edition)

Titel: Der Schuldige: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Ballantyne
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aus und fuhr sich mit einer Hand über die Augen. Er war im Moment nicht dafür bereit. Die Woche hatte ihn ausgepowert, Kräfte gekostet. Er holte tief Luft, ehe er antwortete.
    »Also, ich hab’s dir nicht übel genommen, dass du mit mir nicht sprechen wolltest. Du hast deine Schwester verloren. Ich wollte dir das alles nicht noch schwerer machen. Es ist nur … es ist mir erst jetzt klar geworden, dass sie tot ist. Selbst auf der Trauerfeier, glaube ich, war ich immer noch – wütend auf sie. Wir haben all die Dinge nie geklärt, aber jetzt, wo sie tot ist, vermisse ich sie wohl wirklich.«
    Als er das Wort vermissen aussprach, geriet seine Stimme ins Schwanken. Er holte Atem, um sich zu fassen.
    »Ich bin zurück zum Haus … zur Farm gefahren. Ich hatte sie nicht gesehen – war so lange nicht mehr dort gewesen. Es war … ich weiß nicht, es brachte viele Dinge in Erinnerung. Es war so viele Jahre her, aber mir erschienen sie nicht so. Sie hat mir auch eine Schachtel mit Fotos hinterlassen. Ich glaube, da wurde mir klar, dass ich so vieles über sie nicht wusste …«
    »Sag mir, was du wissen möchtest, Schatz, und ich erzähle es dir.«
    »Nun, ich möchte wissen, warum sie so traurig war.« Er schluckte.
    »Na ja, du weißt doch, dass sie ihre kleine Tochter verloren hat und dann ihren Mann, ziemlich schnell hintereinander.«
    »Ja, aber sie hat nie darüber gesprochen, und ich kenne nicht die ganze Geschichte.«
    »Tja, nur ein Jahr danach begann sie, Kinder anderer Leute bei sich aufzunehmen. Ich begriff es nicht. Ich begreife es noch immer nicht. Sie war eine gute Krankenschwester, eine gute Mutter; ich nehme an, sie musste sich um Leute kümmern. Sie war einer von diesen Menschen, die sich um andere kümmern müssen.«
    »Ich erinnere mich, dass sie mir sagte, das sei das Glück für sie … Über Norman und Delia hat sie nie mit mir geredet. Hat’s immer vermieden – sagte, es wäre zu schmerzlich.«
    Harriet seufzte. Daniel hörte ihren Mann fragen, ob sie Tee wolle.
    »Was meintest du, als du sagtest, sie hätte sich selbst gestraft?«, fragte Daniel.
    »Nun ja, wenn dir deine kleine Tochter genommen ist, wirst du zu einer Pflegemutter, der alle paar Monate ein neues kleines Mädchen geschickt wird. Aber jedes ist nie sie …« Harriets Stimme geriet wieder ins Stocken. »Wie konnte sie das aushalten? Und du weißt, bis du kamst, waren es alles Mädchen , jedes einzelne.«
    Daniel bedeckte seinen Mund mit einer Hand.
    »Sie hat gesagt«, Harriets Stimme brach erneut, und sie erlaubte sich einen kleinen Schluchzer, »Delia hätte so viel Liebe in ihr ausgelöst … sie wüsste gar nicht, was sie sonst mit sich anfangen sollte, verstehst du? Sie musste nur immer weiter schenken … Das war es, was sie umgebracht hat, glaub’s mir! Sie ist so allein gestorben, und das ist nicht recht, wo sie doch die unerwünschten Kinder der halben Welt geliebt hat.«
    »Davon habe ich nie was gewusst«, sagte Daniel. Er drückte seinen Rücken gegen die Wand, und in der dunklen Diele war sein Inneres hell von Erinnerungen. »Als ich klein war, als ich bei ihr einzog, war es, als wäre sie der allgemeine Dorftratsch. Es waren all diese Geschichten über sie im Umlauf. Du würdest es nicht glauben …«
    »Ja, das waren sie wohl. Kleine Orte wie die sind voll kleinkarierter Leute, stimmt’s, und sie war eine solche Persönlichkeit. Sie war ein Stadtmensch. Sie liebte London, sie war dort glücklich. Norman war es, der wollte, dass sie rauf nach Cum bria zog. Ich meine … Cumbria … du liebe Güte. Minnie in Cumbria! Als er tot war, konnte ich einfach nicht verstehen, warum sie blieb. Sie verband nichts mit diesem Ort. Zieh wieder nach London oder komm hierher zurück, sagte ich zu ihr, alles, bloß bleibe nicht in diesem Dreckskaff.«
    »Sie liebte die Farm, die Tiere.«
    »Das war bloß ein Vorwand.«
    »Sie hat dort eine Familie gegründet. Sie hatte ein Zuhause …«
    »Auch wenn sie nach Irland zurückgekommen wäre … aber sie war entschlossen zu bleiben, als wäre es ihre Buße.«
    »Buße wofür?«
    »Na ja, sie machte sich Vorwürfe, nicht? Als hätte sie der armen Kleinen jemals absichtlich etwas zuleide getan. Sie liebte sie mehr als alles sonst auf der Welt.«
    »Was war passiert?« Daniel flüsterte jetzt. »Ein Autounfall?«
    »Ja, und kannst du dir vorstellen, ein Kind von sechs Jahren zu verlieren? Und ihr einziges Kind? Und Delia war so ein Lämmchen. Sie war das klügste, lustigste Kind, das es

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