Der Schutzengel
immer mit dem rabenschwarzen Buch kämpfte, das sie seit einem Jahr beschäftigte.
»He, Shane, stell dir vor, ich habe Paul McCartney kennengelernt! Er war in L. A., um einen Plattenvertrag zu unterschreiben, und wir sind uns am Samstagabend auf einer Party begegnet. Als ich ihn sah, stopfte er sich gerade ein Hors d’œuvre in den Mund; er sagte hallo, hatte Krümel auf den Lippen und war herrlich. Er kennt alle meine Filme und machte mir Komplimente darüber, und wir unterhielten uns – kaum zu glauben, was? –, wir müssen mindestens zwanzig Minuten miteinander geredet haben. Und allmählich ist was ganz Merkwürdiges passiert …«
»Du hast gemerkt, daß du ihn während eures Gesprächs ausgezogen hattest.«
»Nun, er sieht noch immer blendend aus, weißt du, noch immer dieses Engelsgesicht, für das wir vor zwanzig Jahren geschwärmt haben, aber jetzt natürlich von Erfahrung gezeichnet, geradezu distinguiert und mit einem reizend melancholischen Zug um die Augen, und er ist sehr amüsant und charmant. Zu Anfang hätte ich ihm wohl am liebsten die Kleider vom Leib gerissen, das gebe ich zu, und endlich meinen Traum ausgelebt. Aber je länger wir miteinander redeten, desto mehr verwandelte er sich aus einem Gott in einen Menschen, und binnen Minuten war der Mythos verflogen, Shane, und er war nur mehr ein netter, attraktiver Mann in mittleren Jahren. Na, was hältst du davon?«
»Was soll ich davon halten?«
»Das weiß ich selbst nicht«, gab Thelma zu. »Es beunruhigt mich ein bißchen. Sollte eine lebende Legende, die man kennenlernt, einen nicht etwas länger als zwanzig Minuten beeindrucken? Ich meine, ich kenne unterdessen massenhaft Stars, von denen keiner gottähnlich geblieben ist. Aber das ist Mc-Cartney gewesen!«
»Hör zu, wenn dich meine Meinung interessiert, sagt dieser rasche Verlust mythologischer Eigenschaften nichts Negatives über ihn aus, aber viel Positives über dich. Du hast ein Stadium neuer Reife erreicht, Ackerson.«
»Bedeutet das, daß ich mir jetzt am Samstagmorgen keine alten Filme mit den Three Stooges mehr ansehen darf?«
»Die Stooges sind erlaubt, aber Streit ums Essen kommt in Zukunft für dich nicht mehr in Frage.«
Als Thelma um 19.50 Uhr auflegte, fühlte Laura sich etwas besser, deshalb wechselte sie von ihrem rabenschwarzen Buch zu dem über Sir Keith Kröterich. Sie hatte erst zwei Sätze der Kindergeschichte geschrieben, als die Nacht vor den Fenstern durch einen grellweißen Blitz erhellt wurde, der sie entsetzt an eine detonierende Atombombe denken ließ. Der folgende Donner erschütterte das Haus vom Dachfirst bis zu den Fundamenten. Laura sprang auf und war so erschrocken, daß sie sogar vergaß, auf die Speichertaste ihres Computers zu drükken. Ein zweiter Blitzstrahl ließ die Fenster wie Fernsehschirme aufleuchten, der Donner grollte diesmal noch lauter.
»Mom!«
Sie drehte sich um und sah Chris an der Tür stehen. »Alles in Ordnung«, versicherte sie ihm. Er kam zu ihr gerannt. Sie setzte sich wieder und zog ihn auf ihren Schoß. »Alles in Ordnung«, wiederholte sie. »Du brauchst keine Angst zu haben, Schatz.«
»Aber es regnet nicht«, wandte er ein. »Warum ist der Donner so laut, wenn’s gar nicht regnet?«
Draußen ging noch fast eine Minute lang eine unglaubliche Serie von Blitzen und einander ablösenden Donnerschlägen nieder, um dann allmählich abzuklingen. Dieser Ausbruch der Naturgewalten war so heftig gewesen, daß Laura sich vorstellte, der zerbrochene Himmel werde am Morgen gleich den Bruchstücken einer riesigen Eierschale herumliegen.
Stefan war noch keine fünf Minuten von der Lichtung entfernt, auf der er gelandet war, als er bereits rasten und sich an dendicken Stamm einer Kiefer lehnen mußte, deren Äste dicht über seinem Kopf begannen. Die Wundschmerzen bewirkten, daß er Ströme von Schweiß vergoß; zugleich fror er in der bitteren Januarkälte, war zu benommen, um stehen zu können, und fürchtete sich andererseits davor, sich hinzusetzen und in einen Schlaf zu verfallen, aus dem es kein Erwachen geben würde. Unter den herabhängenden Ästen der Riesenkiefer, die ihn auf allen Seiten umgaben, hatte er das Gefühl, Zuflucht unter der schwarzen Robe des Todes gesucht zu haben.
Bevor Laura Chris wieder zu Bett brachte, machte sie noch Eisbecher aus Kokos-Mandel-Eiscreme mit Hershley-Schokoladensirup. Während sie am Küchentisch saßen, stellte Laura fest, daß die Niedergeschlagenheit ihres Sohnes verflogen zu
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