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Der Schutzengel

Der Schutzengel

Titel: Der Schutzengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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sein schien. Vielleicht hatte das bizarre Wetterphänomen, das diesen traurigen Jahrestag so dramatisch beendet hatte, ihn aus seinen Gedanken an den Tod gerissen und zum Staunen über Naturwunder gebracht. Chris plapperte in einem fort über den Blitz, der in dem alten James-Whale-Film, den er vor einer Woche zum ersten Mal gesehen hatte, durch eine Drachenschnur in Dr. Frankensteins Labor gelangt war, über die Blitze, die Donald Duck in einem Cartoon geängstigt hatten, und über die Gewitternacht in dem Film »101 Dalmatiner«, in dem den Welpen so schreckliche Gefahren von Cruella DeVille gedroht hatten.
    Als sie Chris zudeckte und ihm einen Gute-Nacht-Kuß gab, lächelte er wieder – ein auffälliger Gegensatz zu dem finsteren Gesichtsausdruck, den er den ganzen Tag über zur Schau getragen hatte. Laura blieb im Sessel neben seinem Bett sitzen, bis er fest schlief, obwohl Chris keine Angst mehr hatte und ihre Gegenwart nicht mehr brauchte. Sie blieb einfach sitzen, weil sie ihn eine Zeitlang ansehen mußte.
    Um 21.15 Uhr ging sie in ihr Arbeitszimmer zurück. Aber bevor sie sich wieder an ihren PC setzte, trat sie an eines der Fenster, starrte die Schneefläche vor dem Haus an, verfolgte das schwarze Band der kiesbestreuten Zufahrt bis zur fernen Staatsstraße und blickte zu dem wolkenverhangenen Nachthimmel auf. Irgend etwas an den Blitzen beunruhigte sie zutiefst: Nicht daß sie so ungewöhnlich, so bedrohlich gewesen waren, sondern daß ihre einzigartige, fast übernatürliche Energie irgendwie … vertraut gewesen war.
    Laura ging ins Schlafzimmer und kontrollierte das Schaltpult der Alarmanlage im Einbaukleiderschrank. Alle Türen und Fenster des Hauses waren gesichert. Dann holte sie unter dem Bett eine Uzi hervor, deren übergroßes Sondermagazin 400 Schuß Leichtmunition enthielt. Sie nahm die Maschinenpistole ins Arbeitszimmer mit und legte sie neben ihrem Stuhl auf den Teppichboden.
    Als sie sich eben setzen wollte, zuckte erneut ein Blitz herab und erschreckte sie. Der sofort folgende Donnerschlag erschütterte sie bis ins Mark. Noch ein Blitz und noch einer und noch einer leuchtete in den Fenstern auf wie eine Folge grinsender Geisterfratzen aus Ektoplasma.
    Während das Himmelsgewölbe zu erzittern schien, hastete Laura zu Chris, um ihn zu beruhigen. Obwohl die Blitze und Donnerschläge beängstigend heftiger waren als zuvor, wachte der Junge zu ihrem Erstaunen nicht auf – vielleicht weil das Getöse ihm als Teil eines Traumes über Dalmatinerwelpen und ihre Abenteuer in einer Gewitternacht erschien.
    Auch diesmal fiel kein Regen.
    Das Unwetter legte sich rasch, aber Lauras Besorgnis wollte nicht abklingen.
    Im Dunkel sah er seltsame pechschwarze Gestalten: Fabelwesen, die durch den Wald huschten und ihn mit Augen beobachteten, die noch schwärzer waren als ihre Leiber. Aber obwohl sie ihn erschreckten und ängstigten, wußte Stefan, daß sie nicht real, sondern nur Ausgeburten seines mehr und mehr verwirrten Geistes waren. Er schleppte sich weiter trotz äußerer Kälte, innerer Hitze, spitzer Kiefernadeln, tückischer Brombeerranken und gelegentlicher Eisplatten, auf denen er den Boden unter den Füßen verlor. Die Schmerzen in Brust, Schulter und Arm wurden so stark, daß er im Delirium zu spüren glaubte, wie Ratten sein Fleisch von innen heraus annagten, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wie sie dort hineingelangt sein sollten. Nachdem er mindestens eine Stunde lang herumgeirrt war – es erschien ihm wie viele Stunden, sogar Tage, aber es konnten keine Tage gewesen sein, weil die Sonne nicht aufgegangen war –, erreichte er einen Waldrand und sah am Fuß einer sanft abfallenden weiten Schneefläche ein Haus stehen. Seine Fensterläden waren geschlossen, aber an deren Rändern schimmerte es hell. Drinnen brannte Licht. Stefan verharrte ungläubig, weil er zunächst glaubte, das Haus sei nicht wirklicher als die Unterweltgestalten, die ihn durch den Wald begleitet hatten. Dann begann er sich auf die Fata Morgana zuzubewegen – für den Fall, daß sie doch kein Trugbild aus einem Fiebertraum war.
    Schon nach wenigen Schritten zuckte ein Blitz durch die Nacht, schien den Himmel aufzureißen. Die Peitsche knallte noch mehrmals, schien jedes Mal von einem stärkeren Arm geschwungen zu werden.
    Während Stefan im Augenblick vor Angst gelähmt war, drehte und wand sein Schatten sich im Schnee vor ihm. Manchmal hatte er zwei Schatten, weil er aus zwei Richtungen gleichzeitig von Blitzen

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