Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schwarm

Der Schwarm

Titel: Der Schwarm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
Vom Netzwerk:
angestellt wie der letzte Idiot. Der einzige Trost war die Aussicht auf ein paar Informationen, wenn wer auch immer eintraf, um sich mit ihm ›zu befassen‹.
    Eine halbe Stunde verstrich in untätigem Warten. Dann hörte er einen Helikopter näher kommen. Er wandte den Kopf und schaute aus dem Fenster, das zum Hafenbecken hinausging. Licht strömte ins Innere der Baracke. Ein starker Scheinwerfer schwebte dicht über dem Wasser. Kurz schwoll das Knattern der Rotoren ohrenbetäubend an, als der Helikopter das Gebäude überflog und tiefer ging. Das Knattern verwandelte sich in rhythmisches Flappen. Die Maschine war gelandet.
    Anawak seufzte. Jetzt würde er alles ein zweites Mal erzählen müssen. Wer er war, was er hier zu suchen hatte.
    Über den gepflasterten Platz näherten sich Schritte. Gesprächsfetzen klangen auf. Zwei Soldaten traten ein. Ihnen folgte der Offizier.
    »Sie haben Besuch, Dr. Anawak.«
    Er ging einen Schritt zur Seite. Eine weitere Person erschien als Schattenriss im erleuchteten Türrahmen. Anawak erkannte sie sofort. Kurz verharrte sie dort, als wolle sie sich einen Überblick verschaffen. Dann kam sie langsam näher, bis sie dicht vor ihm stand. Anawak sah in wasserblaue Augen. Zwei Aquamarine in einem asiatischen Gesicht.
    »Guten Abend«, sagte eine leise, kultivierte Stimme.
    Es war General Commander Judith Li.

[ Menü ]
     3. Mai
    Thorvaldson, norwegischer Kontinentalhang
    Clifford Stone war im schottischen Aberdeen zur Welt gekommen, als zweites von drei Kindern. Vom ersten Lebensjahr an ging ihm alles Niedliche ab. Er war klein, schmächtig und auf unkindliche Weise hässlich. Seine Familie begegnete ihm mit Distanz, als sei er ein Unfall, eine peinliche Panne, die umso weniger offenbar wird, je weniger man sie thematisiert. Clifford wurde keine Verantwortung übertragen wie dem Erstgeborenen, und er wurde nicht verhätschelt wie seine jüngere Schwester. Man konnte auch nicht eben sagen, dass er schlecht behandelt wurde, im Grunde fehlte es ihm an nichts.
    Bis auf Wärme und Aufmerksamkeit.
    Nie erlebte er das Gefühl, anderen in irgendetwas voraus zu sein.
    Er fand keine Freunde als Kind und kein Mädchen, als er älter wurde und mit achtzehn seine Haare ausfielen. Nicht einmal der Umstand, dass er mit einem glänzenden Abitur aufwartete, schien tatsächlich jemanden zu interessieren. Mit einiger Verblüffung überreichte ihm sein Kursleiter das Abschlusszeugnis, als nehme er den unscheinbaren Jungen mit den fordernden schwarzen Augen erstmalig wahr. Es war ein sehr gutes Zeugnis, also nickte er Stone freundlich zu, lächelte kurz und vergaß das schmale Gesicht im selben Moment.
    Stone studierte Ingenieurwissenschaften und erwies sich als hoch begabt. Endlich – über Nacht – wurde ihm die Anerkennung zuteil, nach der er sich immer gesehnt hatte. Aber sie blieb beschränkt auf seine berufliche Existenz. Der private Stone verblasste zusehends – weniger, weil niemand etwas mit ihm zu tun haben wollte, sondern weil er sich selber keine private Existenz gestattete. Der Gedanke an Privatheit machte ihm Angst. Privatheit bedeutete zurückzufallen in die Nichtbeachtung. Während Clifford Stone, der Ingenieur, mit seinem messerscharfen Verstand Karriere bei Statoil machte, begann er den kahlen Mann, der abends allein nach Hause ging, für seine Ängste zu verachten, bis er ihm schließlich jegliches Existenzrecht absprach.
    Der Konzern wurde sein Leben, seine Familie, seine Erfüllung, weil er Stone etwas vermittelte, das er zu Hause nie erfahren hatte. Das Gefühl, anderen voraus zu sein. Vorn zu liegen. Es war ein berauschendesund zugleich quälendes Empfinden, eine ständige Hetze. Mit der Zeit begann die Sucht nach dem ultimativen Vorsprung Stone auf eine Weise zu beherrschen, dass er sich an keinem seiner Erfolge wirklich freuen konnte, weil er gar nicht wusste, wie man Erfolge feierte oder mit wem. Hatte er ein Ziel erreicht, war er unfähig zu verweilen. Wie besessen hastete er sich selber voraus. Zu verweilen hätte möglicherweise bedeutet, einen Blick auf einen schmalen Jungen mit seltsam erwachsenen Zügen werfen zu müssen, der so lange ignoriert worden war, dass er sich am Ende selber ignorierte. Und nichts fürchtete Stone mehr als den Blick in die dunklen, fordernden Augen.
    Vor einigen Jahren hatte Statoil ein Ressort eingerichtet, das sich ausschließlich mit der Erprobung neuer Technologien befasste. Sehr schnell erkannte Stone, welche Chancen in der baldigen

Weitere Kostenlose Bücher