Der schwarze Atem Gottes
sagte: »Alle sind unschuldig. Was sollst du denn getan haben?« Nun schaute er Martin zum ersten Mal direkt an. Der junge Mönch berichtete ihm von seinen Erlebnissen mit dem Succubus und vergaß auch nicht, die Vorgeschichte dieser Begegnung in groben Zügen darzulegen. Als er zu der angeblich bevorstehenden Apokalypse kam, unterbrach ihn der andere Gefangene:
»Es liegt tatsächlich etwas in der Luft. Es wird etwas Entsetzliches geschehen . Und das Zentrum der Veränderungen liegt hier in Prag. Meine Verhaftung hängt damit zusammen.«
»Wieso?«, fragte Martin und setzte sich vor seinen Leidensgenossen. Dieser Mann, der seinen Namen offenbar nicht nennen wollte, war sehr mager; sein Haar war weiß und schütter, seine Wangen eingefallen, und seine Augen lagen wie glühende Kohlen tief in den Höhlen.
»Ich habe es nicht mit eigenen Augen gesehen; ich habe nur davon gehört«, flüsterte der Mann.
»Wovon?« Er wurde Martin immer unheimlicher.
»Von dem Ende der Welt und davon, was dieses Ende herbeiführen wird.«
Martin wandte den Blick von dem Gefangenen ab. Dieser senkte den Kopf wieder und murmelte weiter seine Psalmen. War er verrückt? Was hatte seinen Geist verwirrt? Ja, seine Worte waren bedeutungslos. Einen Augenblick hatte Martin den Eindruck gehabt, ganz nahe an das Geheimnis herangekommen zu sein, das sein Leben seit einiger Zeit zu bestimmen schien, doch nun war es verweht wie Herbstrauch unter der Sonne.
Martin erhob sich und ging in der engen Zelle auf und ab. Was hatte der Richter mit ihm vor? Welche List, welche Brutalität würde er walten lassen? Martin war verloren, wenn kein Wunder geschah. Und zugleich war auch Maria verloren.
Er sehnte sich so sehr nach ihr. Er sehnte sich danach, ihr zu sagen, was er für sie empfand, ob es nun gegen sein Gelübde war oder nicht. Noch nie hatte er einen Menschen wirklich geliebt. Er hatte immer geglaubt, dass es ausreiche, Gott zu lieben. Doch allmählich begriff er, dass er tief in seinem Herzen nie ein wahrer Mönch gewesen war.
»Die Pforte«, sagte der andere plötzlich. Martin hielt in seinem Gang inne und sah auf den Mann herab. Ihre Blicke trafen sich. »Die Pforte ist ein Mensch.«
Martin schüttelte verständnislos den Kopf und wollte seinen ziellosen Marsch bereits wieder aufnehmen, doch der andere streckte die Hand aus und ergriff Martins härene Kutte. »Hör mir zu!«
Martin hockte sich vor den Mann und zog die Augenbrauen hoch.
»Ich bin Priester«, sagte der Mann, wandte seinen Blick von Martin ab und schaute in unsichtbare Fernen. »Ich bin ein Mann Gottes, genau wie du, denn sonst säßest du nicht hier im Käfig des Erzbischofs. Oh, ich kenne ihn gut. Er hat seinen Bischofsstuhl gekauft, kennt noch nicht einmal die Bibel, hat sich aber vorgenommen, Prag von aller Zauberei zu befreien.« Der Priester lachte hämisch auf. »Da sollte er bei unserem erlauchten Kaiser Rudolf anfangen! Er hockt im Hradschin und umgibt sich mit Alchimisten, Sterndeutern, Nekromanten und Kabbalisten! Er zieht das Böse an wie Aas die Geier. Oh, die Mächte der Finsternis wissen genau, warum sie hier in Prag ihre Pforte errichtet haben!« Er kicherte.
Warum hocke ich hier?,
fragte sich Martin.
Nein, es ist gut so. Ich will ihn nicht gegen mich aufbringen, denn dann wird er mir vielleicht in der Heimlichkeit der Nacht etwas antun. Aber – macht das einen Unterschied? Wäre es denn nicht besser für mich, wenn ich mein Leben in dieser Zelle beschließe? Wer weiß, welche Teufeleien draußen noch auf mich warten?
»Ja, die Kabbala! Kennst du die Kabbala?«, fragte der Priester und sah Martin durchdringend an.
»Ich habe von ihr gehört.«
»Gehört haben viele von ihr, aber kaum einer der Christen kennt sie.« Der Priester spuckte aus. »Ich wollte wissen, was es damit auf sich hat. Wo sonst kann man die Kabbala erlernen als hier, in Prag, in der Nähe des unheimlichen Rabbi Löw? Weißt du überhaupt, was das Wort Kabbala bedeutet?«
Martin schüttelte den Kopf.
»Überlieferung bedeutet es, sonst nichts. Und es ist nicht einmal eine sehr alte Überlieferung. Außerdem ist ihr Anliegen nicht Zauberei, sondern Gotteserkenntnis – auf eine Art, die unserer christlichen Suche nach Gott sehr fern ist. Das heißt aber nicht, dass es vor mir nicht bereits Christen gegeben hat, die sich mit der Kabbala beschäftigten. Hast du die Werke Reuchlins gelesen? Seine Abhandlung De verbo
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