Der schwarze Atem Gottes
feucht.
Martin blieb verdutzt stehen.
Wieso konnte er die Wände sehen? Wieso konnte er überhaupt etwas sehen? Er hatte doch keine Kerze dabei, und eine andere Lichtquelle gab es nicht. Zumindest keine sichtbare. Er schaute den Gang, in dem er sich befand, beide Richtungen entlang. Sanftes, gelbliches Licht schimmerte von überall her, sein Ursprung war nicht zu erkennen. Martin lauschte. Nichts war mehr zu hören – nichts außer dem unendlich fernen Geräusch tröpfelnden Wassers.
Sollte er weitergehen oder umkehren? Irgendwo musste es doch einen Ausgang geben! Also entschied sich Martin, weiterzulaufen. Auf dem Weg quälten ihn tausend Gedanken. Der abscheuliche Kopf war eine Erklärung dafür, dass Hilarius so ängstlich darauf bedacht gewesen war, niemanden bei Nacht in seine Zelle zu lassen, und dass er es hasste, wenn ihn jemand berührte. Aber was war das für ein Kopf? Er hatte schrecklich verzerrte Gesichtszüge, sah aus wie eine Maske. Aber es war eine Maske des alten Paters, ein Zerrbild seines asketischen Antlitzes. Nun wusste Martin auch, warum der Pater trotz seiner kargen Lebensweise einen solchen Leibesumfang hatte. Wie aber konnte ein solches Geschöpf der Hölle Mönch geworden sein? Oder war Hilarius im Gegenteil der größte Heilige, der je auf Gottes Erde gelebt hatte; war dieser Kopf der unbegreifliche Beweis dafür? Martin war vollkommen verwirrt. Hatte der zweite Kopf etwas mit der Apokalypse zu tun? War er der Grund, warum Hilarius sich in der letzten Zeit so sonderbar benommen hatte? War er der Grund, aus dem der alte Mönch entführt worden war? Nein, diese Gedanken waren zu viel für einen einfachen, kleinen Mönch.
Martin sank auf die Knie und betete. Er betete, wie er noch nie zuvor gebetet hatte. Doch Gott blieb stumm.
Eine Welle der Übelkeit überschwemmte ihn. Es musste eine Nachwirkung des seltsamen grünen Giftpulvers sein. Oder hatte er das alles nur geträumt? War alles, was er gesehen hatte, dem Pulver zuzuschreiben? Hatte er Hilarius völlig grundlos im Stich gelassen? Verzweiflung überspülte ihn. Was war denn noch real? Er kniete reglos auf dem eisigen Steinboden, im Bauch der Erde, inmitten eines unmöglich großen Labyrinths, und das gemurmelte Gebet erstarb ihm auf den Lippen.
Was ist, wenn ich schon tot bin?,
fragte er sich.
Was ist, wenn der Erzzauberer mir das Herz bereits herausgeschnitten hat?
Er sah an sich herunter, konnte aber keine Wunde entdecken.
Trotzdem – vielleicht bin ich ja schon im Jenseits.
Er stand zitternd auf und schwanke so stark, dass er sich an der feuchten, eisig kalten Wand des Ganges abstützen musste.
Wo immer ich hier bin – der Himmel ist es nicht. Ist es nur das Fegefeuer – oder bereits die Hölle?
Er spürte, wie ihm Tränen an den Wangen herunterrannen.
Durch den Schleier seiner Trauer und Verwirrung sah er, dass der Gang in einigen Klaftern vor ihm eine Biegung nach links machte. Vielleicht lag der Ausgang ja ganz nahe.
Bis zu dieser Biegung gehe ich noch,
nahm Martin sich vor. Mit unsicheren Schritten machte er sich auf den Weg.
Hinter der Biegung blieb er stehen und hielt vor Staunen die Luft an. Nichts hatte ihn auf diesen Anblick vorbereitet.
Der Gang, der Weg endeten. Vor einem Abgrund. Einem Abgrund, der im wahrsten Sinne des Wortes bodenlos war. Weit hinten – meilenweit, wie es Martin erschien – konnte man in dem seltsamen, gelblichen Licht die jenseitige Wand des Abgrunds erkennen und auch einen Tunnel, der sich wie ein Wurmloch in die Wand fraß; vielleicht war es die Fortsetzung des Ganges, an dessen Öffnung er nun stand. Das gewaltige Loch war eher ein Schacht, der sich rechts und links in unahnbaren Fernen verlor, und auch eine Decke war nicht zu sehen. So tief unter der Erde konnte sich Martin doch gar nicht befinden! Nein, das hier war nicht mehr die Welt, die er kannte. Er legte sich auf den Steinboden, zuckte kurz zusammen, als die Kälte des Felsens ihn heftig küsste, und robbte an den Rand des Schachtes. Vorsichtig spähte er hinunter.
Die Schachtwand war vollkommen glatt und glänzte so feucht wie der Tunnel, durch den er hergekommen war. Doch das war es nicht, was ihm den Atem raubte.
Jemand kam aus diesem Schacht auf ihn zu. Jemand ging hoch zu ihm, lief die senkrecht stehende Schachtwand entlang, als wäre sie der ebene Erdboden. Zuerst war die Gestalt sehr klein; in dem gelben Licht sah Martin nur einen Auswuchs aus der Wand, der aber schnell
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