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Der schwarze Atem Gottes

Der schwarze Atem Gottes

Titel: Der schwarze Atem Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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größer wurde. Je näher sie dem Mönch kam, desto deutlicher wurde sie. Es war ein Mann. Ein nackter Mann. Nackt wie Martin selbst. Er schob sich noch etwas weiter über den Rand des Abgrundes, um besser sehen zu können. Dann schwankte die Welt um ihn herum, und er verlor das Gleichgewicht.
     
    Aber er fiel nicht. Er stand plötzlich auf einer ungeheuer weiten, dunkel glänzenden Fläche, und hoch über seinem Kopf schwebte ein genaues Abbild dieser Fläche. Und auf dieser schier unendlichen Ebene kam ihm die nackte Gestalt entgegen. Es dauerte nur wenige Sekunden, und sie stand vor Martin. Ungläubig starrte er sie an.
     
    Er war sie. Sie war er selbst. Aber es war kein Spiegelbild. Die Gestalt starrte nicht in gleicher Weise zurück; sie war nicht entsetzt, sondern todernst. »Wer … wer bist du?«, stammelte Martin.
     
    »Der, für den du mich siehst«, antwortete die Gestalt mit Martins Stimme.
     
    »Wo … wo bin ich? Ist das hier die Hölle?«
     
    »Nein, das ist sie nicht – noch nicht. Du befindest dich an einem Ort, der dir unendlich fern und zugleich unendlich nah ist. Aber er wird dir und allen, die nach dir kommen, zur Hölle werden, wenn du es nicht verhinderst. Sieh hin!«
     
    Rechts von Martin wuchs aus der glatten, glänzenden Ebene etwas heraus. Es war der Umriss einer Stadt – einer brennenden Stadt. Martin kannte dieses Bild. Von Federlin. Und dann kamen die Reiter der Apokalypse. Als sie wieder verschwunden waren, verdunkelte sich das Bild. Martin konnte seinen Doppelgänger nicht mehr erkennen, und auch der Boden und die Decke des unmöglich großen Raumes waren verschwunden. Gleichzeitig wurde es wärmer. Martin fror nicht mehr. Die Wärme war unangenehm feucht.
     
    Zuerst hörte er es. Das Geschrei und Wehklagen der Gefolterten. Und dann sah er sie. Sah, wie sie an Fleischhaken herabhingen, weißes Fleisch in der Schwärze, als würde eine gewaltige Kerze sie beleuchten. Wie sie an Ketten herabhingen und an Seilen. Wie sich diese Ketten und Seile plötzlich spannten und die Leiber zerrissen. Martin spürte, wie Blut auf seinen Körper spritzte. Er hielt die Hände vor die Augen.
     
    »Sieh hin!«, donnerte die Stimme seines Doppelgängers. Seine eigene Stimme. Er wagte es nicht, sich ihr zu widersetzen.
     
    Dann sah er seltsam gekleidete Männer, die sich über ihre kreischenden Opfer beugten und sie bei lebendigem Leibe aufschnitten. Und er sah Massen verschüchterter, zitternder Menschen, die genauso nackt waren wie er selbst. Sie bedeckten notdürftig ihre Scham. Es waren ausschließlich Männer. Sie schauten in irrer Angst zur Decke, aus der merkwürdige Dinge herauswuchsen, wie Würmer oder Schlangen, und an ihrem Ende trugen sie Platten von viel größerem Durchmesser, die von zahlreichen Löchern durchbohrt waren. Dunstschwaden ergossen sich aus diesen Löchern, aus diesen Schlangen auf die zitternden Menschen. Sie schnappten nach Luft, machten die irrsinnigsten Verrenkungen; sie schienen zu ersticken. Tausende. Immer wieder neue. Martin konnte es nicht mehr ertragen. Dann sah er Rauch, der durch einen Kamin in die bleierne Luft stieg; Rauch wie eine Säule, Rauch, in dem sich einen Augenblick lang die schmerzverzerrten Gesichter der Gemordeten zeigten.
     
    »Es ist genug!«, keuchte der junge Mönch. Er sackte auf die Knie und wimmerte. »Ich kann es nicht mehr ertragen!«
     
    »Schon das kannst du nicht ertragen? Was sollen denn die sagen, die all das erleiden müssen?«, brauste seine eigene Stimme auf. »Die Zeit des Wegsehens und Weglaufens ist für dich vorbei. Die Zeit deines neuen Lebens beginnt nun. Was du gesehen hast, sind Bilder, die sich im schwarzen Atem Gottes regen.«
     
    »Im schwarzen Atem Gottes?«, fragte Martin verständnislos. Er schaute auf. Die Bilder waren verschwunden; er kniete vor seinem Spiegelbild in dem unmöglich großen Raum.
     
    »Der Atem Gottes, der über die ganze Welt wehen wird, wenn die Pforte geöffnet ist. Du musst diese Pforte finden und zerstören.«
     
    »Warum ich?« Martin erhob sich unsicher. »Und wo ist diese Pforte?«
     
    »Du wirst es nicht aus eigener Kraft schaffen. Doch du wirst Hilfe haben. Die Pforte ist bereits geschaffen, aber weniger als einen Spaltbreit geöffnet. Du wirst vor dieser Pforte sehen, dass sich das Gute und das Böse verwandelt und dass das Böse sich in das Gute verwandeln wird. Die Pforte ist in der Schwelle.«
     
    »Was für eine Schwelle? Wo finde ich diese Schwelle?«
     
    »Wende dich an

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