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Der schwarze Atem Gottes

Der schwarze Atem Gottes

Titel: Der schwarze Atem Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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Teil der Welt, und die ganze Schöpfung ist um mich herum. Siehst du das nicht?«
     
    Und für einen winzigen Augenblick sah sie es wirklich. Sie sah das Kaninchen, das nicht weit von der Ulme, unter der sie lagerten, eifrig Klee fraß; sie sah die Amsel, die weit über ihren Köpfen ihr Abendlied flötete; sie sah den Käfer, der unbeholfen über den Boden krabbelte; sie sah den Fuchs, der durch das Gras schlich; sie sah das Rehkitz weit vor sich, das sich an seine Mutter kuschelte. Und dann sah sie, wie der Käfer von der niederstoßenden Amsel aufgespießt wurde, wie das Kaninchen vor dem Fuchs davonlief, aber zu langsam war, und das Reh und das Kitz sprangen plötzlich auf, weil sie die Gegenwart von etwas Schwarzem, Bösem gespürt hatten, doch auch für sie war es zu spät. Die Schwärze fiel über sie her und sog ihnen das Mark aus den Knochen.
     
    Maria wusste, dass sie das alles nicht mit ihren eigenen Augen hatte sehen können. Sie starrte Federlin verwirrt an.
     
    Der Gaukler schenkte ihr ein Lächeln, in dem eine ungeheure Traurigkeit lag. »Verstehst du jetzt, was ich meine?«
     
    »Wer bist du wirklich?« Im Hintergrund hörte sie das tiefe, laute Atmen des Mönchs.
     
    »Wer ich bin? Ich bin, der ich bin, und ich bin, der ich nicht bin. Ich bin bloß ein armer, einfacher Gaukler, der die Welt mit seinem Spiel erfreuen will, doch Freude gibt es nur gepaart mit Leid. Und jetzt zieh deinen Rock wieder herunter; mich wirst du heute nicht verführen.«
     
    Seine Worte waren wie eine kalte Dusche für Maria. Am liebsten hätte sie sich in ihrer ohnmächtigen Wut auf Federlin gestürzt und ihm das Gesicht zerkratzt. Sie rückte von ihm ab und schmollte.
     
    Inzwischen war es so dunkel geworden, dass sie die Hand kaum mehr vor den Augen sehen konnte. Nachtgeräusche durchwebten den Wald, und sie musste an ihre Vision denken. War es Federlin gewesen, der sie ausgelöst hatte? Oder war nur die Phantasie mit ihr durchgegangen? Nun, jedenfalls sah sie nichts mehr. Sie spürte, wie sie müde wurde, unendlich müde, und langsam glitt sie in einen unruhigen Schlaf hinüber, in dem sie von rauen Spießgesellen verfolgt wurde, die ihr mit irrsinniger Lautstärke etwas über das Ende der Welt zubrüllten. Dann erschien Federlin, hob die Hände wie Christus auf den Altarbildern der wenigen Kirchen, die sie bislang von innen gesehen hatte, und alles schwieg. Und Federlin öffnete den Mund.
     
    Und eine schwarze Atemwolke drang heraus und hüllte die Welt ein.
     
      
    Am nächsten Morgen war die unzeitige Hitze des vergangenen Tages nur noch blasse Erinnerung; es regnete. Federlin, Martin und Maria waren bereits bis auf die Knochen durchnässt, als sie aufbrachen und weiter den kaum mehr sichtbaren Spuren der Entführer folgten.
     
    Gegen Mittag ließ der Regen nach, und Stare und Amseln kündigten die Sonne an. Weit in der Ferne sah Maria eine Stadt an einem Hügel kleben; ihre Türme glänzten feucht in der heranschleichenden Sonne. »Das ist das alte Bamberg«, sagte Federlin. »Eine wunderschöne Stadt, in der Kaiser Heinrich der Zweite und seine Gemahlin Kunigunde begraben liegen. Es ist sehr schade, dass uns unser Weg anscheinend nicht in sie hineinführt. Die Mordbuben haben sie offenbar weiträumig umritten. Wir sollten den Spuren folgen, nicht wahr, Bruder Martinus?«
     
    Martin, der heute bisher kaum etwas gesagt hatte, brummte seine Zustimmung. Er schien weder müde noch hungrig zu sein und hielt sich so gerade, dass er regelrecht gewachsen zu sein schien. Maria beachtete er kaum. Nur manchmal, wenn er sie kurz ansah, schien er sich zu erinnern, dass es sie noch gab, und dann kroch etwas von seiner alten, verschütteten Schüchternheit in seinen Blick zurück. Maria beneidete ihn nicht um seine schlimmen Erlebnisse; sie erklärten manches in seinem Verhalten, aber nicht alles. Warum zum Beispiel sprach er so selten von dem heiligmäßigen Pater Hilarius, wo er doch alles daransetzte, ihn aus den Klauen der Entführer zu befreien? Und wenn er ihn erwähnte, dann geschah es zumeist mit einer merkwürdigen Mischung aus Ehrfurcht und bodenlosem Abscheu.
     
    Eigentlich hatte Martin sogar recht: Sie verstand gar nichts. Sie verstand weder ihn noch den alten Pater noch Federlin und seine sonderbaren Fähigkeiten, Worte und Taten. Sie lief einfach nur hinter den Ereignissen her und war sich weder ihres Ziels noch ihrer Gefühle sicher.
     
    Und tief in ihrem Innern befürchtete sie, dass sie geradewegs in

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