Der schwarze Atem Gottes
Ihr vielleicht schon wisst, wurde die Pforte zur Hölle errichtet.«
Hilarius zuckte zusammen. Auf einen Schlag war seine leichte Trunkenheit verschwunden.
Der Graf fuhr fort: »Es gab Experimente – kabbalistische Experimente. Einige in der Kabbala zutiefst unterrichtete Prager Juden haben nach jahrelangen Vorbereitungen den Versuch unternommen, in engen Kontakt mit Gott zu treten und einen Weg anzulegen, auf dem sie zur unmittelbaren Gottesanschauung gelangen können. Jeder sollte in die göttliche Sphäre eindringen und Gott auf seinem Himmelswagen sehen können, so wie ihn die alten jüdischen Mystiker gesehen haben. Vielleicht habt Ihr schon einmal etwas von der MerkabaMystik gehört?«
Hilarius schüttelte den Kopf. »Ich beschäftige mich nicht mit der jüdischen Mystik. Ich bin Christ. Die Juden haben unseren Herrn Jesus Christus, den Messias, ans Kreuz genagelt! Ich hasse die Juden. Brennen sollen sie alle!«
»Ihr seid nicht ganz folgerichtig, mein lieber Pater«, sagte der Graf sanft. »Auch Euer Christus war Jude, und der Begriff Messias stammt ebenfalls aus dem Jüdischen. Ihr seid jüdischer, als Ihr es Euch vorstellen könnt.«
»Was kann man aus dem Munde Satans anderes erwarten als Ketzereien?«
»Kehren wir zurück zu der Pforte der Hölle«, sagte der Graf so geduldig, als erkläre er einem kleinen Kind die Funktionsweise des Rades. »Es war vor allem ein mir nicht bekannter Kabbalist, der diesen Weg beschritten hat, und seine Experimente sind fürchterlich fehlgeschlagen. Er hatte nicht bedacht, dass Gott es vielleicht nicht will, dass man ihn besucht.« Graf Albert lachte schrill auf. Dann berichtete er weiter: »Sein schlimmster Fehler aber war, dass er nicht wahrhaben wollte, dass Gott und der Teufel ein und dieselbe Person sind, dass Himmel und Hölle ein und dasselbe sind.«
Hilarius sprang von seinem Stuhl auf. »Das ist eine infame Blasphemie!«, schrie er. »Ihr selbst wisst doch am besten, dass das nicht stimmt! Ich werde dafür sorgen, dass Ihr auf dem Scheiterhaufen brennt!« Wutbebend stand er vor dem Adligen und ballte die Fäuste.
Graf Albert lächelte nachsichtig. Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Immer dieses Brennen! Man könnte fast der Vermutung erliegen, dass Ihr es kaum abzuwarten vermögt, die Höllenfeuer zu sehen. Setzt Euch doch bitte wieder.« Hilarius gehorchte widerwillig. Dann fuhr der Graf fort: »Das Tor ist jedenfalls errichtet, wenn auch unbeabsichtigt, und nun kommt es darauf an, dass es verschlossen bleibt. Mehr noch – es muss aufgelöst werden, es muss wieder verschwinden, zu nichts werden, darf nie da gewesen sein. Schon jetzt entweichen böse Kräfte durch es, obwohl es noch nicht geöffnet ist. Spürt Ihr nicht selbst bereits den schwarzen Atem Gottes? Habt Ihr nicht bemerkt, dass die Welt an diesem Jahrhundertende wie verrückt geworden ist? Ihr als Hexenschnüffler müsst Euch doch schon gefragt haben, woher diese Hexenseuche kommt, die allerorts die Welt verpestet.«
Hilarius stützte den Kopf in die Hände und sagte leise: »Das stimmt. Mit unserer Welt steht es seit einiger Zeit nicht mehr zum Besten. Es ist, als hätten die Dämonen die Oberherrschaft angetreten.«
»Das haben sie nicht.« Graf Albert lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Arme auf die Lehnen. Er hatte unglaublich lange, feingliedrige Finger. »Aber sie werden es, wenn wir nichts unternehmen.«
»Das wäre doch in Eurem Sinne!«
»Nun wird es mir langsam zu bunt!« Zum ersten Mal erhob der Graf die Stimme. »Seid Ihr denn wirklich so begriffsstutzig!? Ich will nichts anderes als Ihr selbst! Ich will die Welt vor der Invasion der Hölle retten!«
»Und wie wollt Ihr das anstellen? Und warum braucht Ihr ausgerechnet mich dazu?«
»Wie ich schon sagte, ist die Pforte errichtet, und kein Mensch ist stark genug, dem Göttlichen entgegenzutreten. Es gibt nur ein Wesen – ich will nicht sagen: ein Mensch –, dem es gelingen könnte!«
»Und wer soll das sein? Ich etwa?« Ein seltsames Gefühl durchprickelte Hilarius. Plötzlich war ihm tatsächlich, als berühre ihn der Atem Gottes. Der schwarze Atem Gottes.
Der Graf grinste. »Zu viel der Ehre für Euch. Verzeiht, wenn ich diese Frage verneinen muss. Nein, nicht Ihr seid es, der diese Pforte vernichten kann, sondern der Messias.«
Hilarius sah den Grafen verständnislos an. Waren seine Angst und seine grässlichen Vorahnungen etwa
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